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Über ein Jahr dauerte es, bis Lennard sein Cello baute, das erste, bei dem Salvador ihm nicht half, ihn nicht korrigierte und nicht einmal eingriff, wenn er einen Fehler machte. Aber Lennard machte keinen Fehler, und wenn doch, bemerkte er ihn rechtzeitig und behob ihn. Als das Instrument fertig war und einige Tage geruht hatte, bat Lennard Salvador, darauf zu spielen. Der Mann, der inzwischen ohne seine Brille völlig blind war und immer öfter vergaß, den Topf mit dem Holzleim zu schließen oder die Pinsel ins Glas mit Verdünner zu stellen, bevor der Lack aushärtete und sie unbrauchbar machte, setzte sich auf den Schemel, strich den mit Rosshaar bespannten Bogen leicht und mit geschlossenen Augen über die Saiten, drehte die Schrauben am Wirbelkasten, bis die Töne rein waren und warm und voll klagender Schönheit, drückte dann den Rücken durch und spielte. Er war kein besonders guter Cellist, und seine Finger, die in bald achtzig Jahren kaum einen Tag der Untätigkeit erlebt hatten, waren oft plump, wenn er sie flink, und kraftlos, wenn er sie stark haben wollte. Er kannte nur drei kurze Stücke, zwei von Brahms und eines von Bach, aber er legte so viel Herz in sein Spiel, dass die Abweichungen von der Perfektion nicht ins Gewicht fielen, die Missklänge untergingen im mächtigen Schall, der den Raum ausfüllte wie etwas Greifbares, und die Langsamkeit seiner störrischen Hände die Melodie dehnte, als wolle er sie mit Absicht nicht enden lassen.

In der Nacht des Tages, an dem Salvador zum ersten Mal auf Lennards Cello spielte, wurde das so lange ersehnte Kind gezeugt, das drei Monate später im Bauch seiner Mutter starb. Ein Wunder müsse geschehen, sagte der Arzt, wenn Maureen noch einmal schwanger werden sollte, und ein weiteres, wenn sie das Kind würde austragen können. Die magische Kraft der beiden Münzen, die vielleicht noch immer auf den bunten Fliesen des Hotelspringbrunnens lagen, war aufgebraucht, und nach einem Monat voller Schmerz und Wut richtete Maureen sich in ihrem beschädigten Leben neu ein, arbeitete wieder als Kellnerin und hörte nicht auf, an Wunder zu glauben.

Mit ihrer Mutter telefonierte Maureen nur noch selten, und wenn sie es tat, verkamen die Gespräche zu einem distanzierten Hin und Her von Belanglosigkeiten und Wiederholungen. Es war, als gäbe es eine geheime Abmachung zwischen den beiden Frauen, die es ihnen untersagte, über ihr Unglück zu sprechen. Statt von der Unmöglichkeit, mit Eamon dort oben zu leben, erzählte Orla von einem Garten, den sie trotz des rauhen Wetters anlegen wollte, von Spaziergängen am Strand und Möbeln, die sie sich aus Dublin liefern ließ, und Maureen erfand weiterhin Reisen quer durch das Land, leere Wohnungen und vielversprechende Arbeitsplätze. Irgendwann waren die Pausen, während derer Mutter und Tochter schweigend auf das leise Rauschen in der Leitung horchten, immer länger geworden, und schließlich beschränkte sich Maureen auf kurze Pflichtmeldungen alle paar Monate und eine Grußkarte zu Weihnachten und Orlas Geburtstag.

Lennard verkaufte das Cello an eine Musikschule in Boston, dessen Rektor ein guter Freund von Salvador war. Weil das Geld trotzdem immer knapp war und Maureen darauf beharrte, etwas zur Seite zu legen für das Kind, das sie irgendwann haben würden, nahm er eine Stelle in einer Schreinerei an, die sich auf die Restaurierung wertvoller Möbel spezialisiert hatte. Abends und an den Wochenenden baute er in der Werkstatt, deren Miete er inzwischen alleine bezahlte, Instrumente. Schon bald hatte ein Cello, das im dunklen Bauch den Sandberg-Schriftzug mit dem Notenschlüssel im ersten Buchstaben trug, einen guten Ruf als solides, zuverlässiges Instrument ohne Allüren, das vor allem Anfänger kauften und Leute, die kein Vermögen ausgeben konnten. Aber es gab auch Musiker, die den Klang und die Verarbeitung eines Sandberg-Cellos schätzten, insbesondere wenn Lennard wertvolles, gut gelagertes altes Holz verwendete, das Salvador über Jahrzehnte hinweg zusammengetragen hatte.

Als eine Cellistin, die in New York im Rahmen eines Festivals für Kammermusik auftrat, Lennard bat, zu kommen und sie auf seinem Instrument spielen zu hören, fuhren er und Maureen in Begleitung der Onettis mit dem Volvo los, ohne lange zu überlegen. Lennard und Maureen waren seit Jahren nicht über die Grenzen von Pennsylvania hinausgekommen, und die Onettis hatten das letzte Mal die Stadt verlassen, um als Trauzeugen zu fungieren. Sie stiegen in einem Hotel ab, das erschwinglich und trotzdem zumutbar war, gingen ihren Möglichkeiten entsprechend nobel essen und hörten sich am Abend das Konzert in einem Theater in Brooklyn an. Am nächsten Tag unternahmen sie einen Ausflug nach Liberty Island. Weder Lennard noch Maureen hatten die Freiheitsstatue zuvor gesehen, und Sofia füllte einen ganzen Film auf ihrer betagten Kamera. Nach dem Mittagessen waren Salvador und Sofia so müde, dass sie sich in einem Taxi zum Hotel bringen ließen. Lennard und Maureen nahmen die U-Bahn hinaus nach Coney Island, wo sie auf dem Riesenrad fuhren und am Strand spazierengingen. Auf einem Steg, der in die sanfte Brandung des Atlantik ragte, holte Maureen eine Streichholzschachtel voll Dimes und Quarters aus ihrer Handtasche, Münzen, die sie beim Wischen am Boden des Restaurants gefunden und zu Glücksbringern erklärt hatte. Dann nahm sie Lennards Hand, schloss die Augen und ließ die Geldstücke ins Wasser fallen.

«Sie hat die ganze Handvoll Münzen ins Wasser geworfen, und beide haben zugesehen, wie sie versanken«, sagte Sune. Von dem Essen, das er gekocht hatte, hatte Wilbur nicht viel gegessen. Der Topf mit den Nudeln stand in der Mitte des Tisches, und auf seiner Außenwand krümmte sich die Küche zu einem verzerrten, postkartengroßen Bild, in dessen Mitte Wilbur sein Gesicht als hellen Fleck erkannte.

«Und dabei hat sie sich dich gewünscht«, sagte Ulrika und strich Wilbur über den Kopf. Sie war rechtzeitig zum Essen zurückgekommen, mit Wein- und Sprudelflaschen und einer Schokoladentorte, von der Wilbur, überfüttert mit Geschichten, keinen Bissen hinunterbrachte.

«Ihr Wunsch ging in Erfüllung«, sagte Sune. Er lächelte, aber dann senkte er betreten den Blick, und sein Gesicht wurde ernst.

Ulrika sah Wilbur traurig an und legte ihre Hand auf seine.

Nachdem Sune den Abwasch gemacht hatte, rief er Pauline und Henry an. Wilbur hatte ihm die Telefonnummer nur widerwillig genannt, aber Sune und Ulrika hatten darauf bestanden. Pauline weinte, und als sie sich gefasst hatte, wollte sie mit Wilbur sprechen, aber Sune sagte ihr, der Junge schlafe schon. Auch ihren Vorschlag, Henry nach Schweden zu schicken, um den Jungen abzuholen, wehrte Sune diplomatisch ab, indem er versprach, Wilburs Rückflug zu organisieren. Sune bat sogar darum, Wilbur noch einen Tag hierzubehalten. Er wollte ihm den Ort zeigen und ihn seinen Großeltern vorstellen, und nach einigem Hin und Her gab Pauline nach und erlaubte es.

Im Wohnzimmer war das Sofa als Bett hergerichtet worden, in dem Wilbur schlafen sollte. An den Wänden des kleinen Raumes hingen Ulrikas Bilder mit Landschaften, Dorfszenen, Tieren, alle im Stil der naiven Malerei. Die Balken des Dachstocks knackten, in einem der Hinterhöfe bellte ein Hund. Wilbur lag da und sah an die Decke, an der Mondlicht haftete. Er konnte nicht schlafen, zu viele Gedanken drehten sich in seinem Kopf. Er streckte die Hand aus und nahm die Fotografie vom Tisch, die Sune ihm gegeben hatte. Sie zeigte Lennard Sandberg vor einem Hauseingang stehend. Er trug eine weite helle Hose und ein dunkelblaues Hemd, und er hielt den Kopf leicht abgewandt. Hinter ihm fing sich Sonnenlicht im Rot einer Tür, auf die mit weißer Farbe die Zahl 73 gemalt war. Ein Stück der Hausmauer war zu sehen, am rechten Bildrand der hintere Teil eines Fahrrads neben einem Müllsack.

Wilburs Vater sah alt aus und müde, seine Augen waren schmal und lagen tief in dunklen Höhlen. Auf die Rückseite war ein Datum gekritzelt, aber die Jahre hatten die Tinte ausgebleicht und die Zahlen unleserlich werden lassen. Nach dem Abendessen hatte Sune ihm erzählt, er habe die Aufnahme im Winter 1991 erhalten, zusammen mit einem Brief aus New York. Im März 1993 sei ein zweiter Brief gekommen, das letzte Lebenszeichen von Lennard.