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«Sie ist nett«, sagt Leonidas. Dabei tippt er konzentriert.

«Was? Wer?«

Leonidas sieht mich an, grinst.»Schläft sie noch?«

Ich habe die Nacht mit einer Frau verbracht, laut Statistik über fünfeinhalb Jahre zu spät. Ich habe sie mit nichts bezahlt als grenzenloser Verblüffung und Dankbarkeit. Das Zimmer roch nicht nach Hund, nirgendwo grölten betrunkene Männer. Ich bin kein Aussätziger mehr, ich gehöre dazu. Und jetzt rede ich mit einem Kumpel darüber, wie andere Jungs in New York, in Amerika, auf der ganzen Welt. In dieser Nacht bin ich zu einem normalen Menschen geworden, zumindest was diese eine Sache betrifft. Am Rest werde ich arbeiten.

«Ja«, sage ich. Grinse ich dabei wie er? Soll ich noch etwas sagen? Etwas Witziges? Anzügliches? Vielleicht erwartet Leonidas, dass ich davon erzähle, dass ich angebe, intime Details preisgebe, weil es zum Ritual gehört. Ich stehe an der Theke, ein Gast, der ein Zimmer will, einen Ort, um seine Heimatlosigkeit aufzubewahren. Der Kugelschreiber ragt aus einem Loch in einem bibelgroßen Steinblock, an den er mit einer Schnur gebunden ist, weil Leute Kugelschreiber stehlen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mir fällt nichts Schlüpfriges ein, und mit Verliebtheit und dem labyrinthischen Gefühl wallender Verzückung kann ich Leonidas ja wohl nicht kommen.

«Sie ist in meinem Stück«, sagt Leonidas.

«Aimee?«

«Heißt sie so? Ja. Sie hat die ganze Zeit diesen Koffer bei sich. Am Ende des dritten Akts öffnet sie ihn. Und weißt du, was drin ist?«

Ich zucke mit den Schultern. Erinnerungsstücke, könnte ich antworten. Überbleibsel. Dinge, die manchmal trösten und manchmal nicht.

Das Telefon klingelt. Leonidas meldet sich, dann lacht er und spricht Griechisch. Irgendeiner seiner dreitausend Verwandten. Ich hebe die Hand, er auch, und ich gehe nach oben. Weil ich nicht weiß, wie so eine Geschichte weitergeht oder was von mir jetzt erwartet wird, ob ich Aimee wecken darf, ob ich sie wecken muss, wie ich sie wecken soll, ob sie überhaupt noch da ist oder schon weg, meine Abwesenheit dankbar ausnutzend, in hastig übergestreiften Sachen die Feuerleiter hinuntergeklettert, humpelnd in ungeschnürten Schuhen, mit dem Schal nach einem Taxi winkend, eine verschlafene, hellwache Gestalt, gerade einer Beinahekatastrophe entkommen, weil ich all das nicht weiß, bleibe ich im Niemandsland meiner Etage auf der obersten Stufe stehen und warte.

Matthews Atemübungen helfen, aber sie ersetzen nicht fünfeinhalb Jahre Erfahrung. Ich wusste nicht, was ich Leonidas erzählen sollte, und ich weiß nicht, was ich Aimee sagen soll. Dass es nicht regnet? Dass die Nacht schön war? Wenn ich ihr sage, dass es das Schönste war, was ich in meinen zwanzigeinhalb Jahren erlebt habe, ist ihr gleich klar, dass ich nicht normal bin, dass es mit mir etwas auf sich hat, über das zu reden unangenehm wäre. Haben wir letzte Nacht geredet? Ich kann mich nur an Gestammel erinnern, an Keuchen, gelegentliches Glucksen. Musste ich ihr gestehen, dass ich Jungfrau war, oder sprach meine Unbeholfenheit Bände? Habe ich die drei Worte geflüstert, oder kamen sie aus Dobbs’ Radio?

Nach einer Weile gehe ich ohne jegliche Erkenntnis weiter, stehe viel zu plötzlich vor meiner Zimmertür und lege ein Ohr daran. Stimmen. Knisterndes Fernsehmurmeln. Falls ich einen Plan hatte, verwerfe ich ihn und klopfe an.

«Ja?«Es ist ihre Stimme. Sie ist noch da. Sie sitzt nicht fröstelnd in einem Taxi und sehnt sich nach einer langen gründlichen Dusche.

«Ich bin’s«, sage ich.»Will«, füge ich rasch hinzu.

«Komm rein!«

Ich atme alle Luft ein, die ich auf dem stickigen Flur kriegen kann, und betrete das Zimmer. Aimee sitzt angezogen auf dem Bett und sieht fern, eine Talkshow. Leute beschimpfen sich vor Publikum. Wegen der Bildstörung sieht es aus, als ob ein endloser Strom wabernder Flüssigkeit über sie gegossen würde.

«Hi«, sagt sie und schaltet das Gerät aus.

«Hallo«, sage ich. Weil ich nicht weiß, ob ich sie küssen soll, gehe ich rasch zur Kommode, um Dobbs’ Zuckerdose in die Hand zu nehmen. Die weißen Würfel sehen aus wie ein kleines eingefallenes Iglu.

«Bis du schon lange wach?«

«Es geht.«

«Musst du heute arbeiten?«Sie schwingt die Beine über den Bettrand und schlüpft in ihre Schuhe.

Ich sehe ihr zu, wie sie die Schnürsenkel bindet. Ich liebe es, Leuten dabei zuzusehen. Es existieren Unmengen verschiedener Techniken, wie beim Zähneputzen oder Wäschefalten.

«Eigentlich schon«, sage ich. Mein Tagesplan sieht die Reinigung der Lobby, das Kehren vor dem Eingang und das Ausmisten der Besenkammer in der zweiten Etage vor. Dazu kommt der Katalog aus Kleinkram, der anfällt, weil das Hotel, einem kranken Organismus gleich, rund um die Uhr mit Rissen und Flecken und Löchern seinen allmählichen Zerfall offenbart.

«Kannst du den Nachmittag frei kriegen?«Aimee steht auf und zieht den Pulli an.

«Weiß nicht«, sage ich.»Da muss ich Randolph fragen. «Das wäre mein erster freier Nachmittag in zwei Wochen.

«Gut«, sagt Aimee. Sie hebt mit beiden Händen ihr Haar aus dem Kragen, kommt zu mir und küsst mich auf den Mund, kurz nur, fast flüchtig, wie eine Frau, die zur Arbeit geht.»Und jetzt hab ich Hunger. «Damit ist sie aus dem Zimmer.

Ich stehe da mit der Zuckerdose in den Händen und sehe auf das Stück Flur im Türrahmen, den roten fusseligen Teppich, die zerkratzte, mit schwarzen Striemen bedeckte Wandleiste und die Tapete, deren Blau fleckig ist, ein Himmel voller Risse und gekritzelter Botschaften. Dann ertönt, begleitet vom Ächzen des erwachenden Fahrstuhls, Aimees Stimme:»Kommst du?«

Der Speiseraum ist so groß wie die Lobby, aber fensterlos. Von der Decke hängen weißschalige Lampen, deren Licht auf ein Dutzend Tische fällt. Die Stühle sind zusammengetragen, Holz, Metallrohr und Kunstleder, Plastik, jeder Tisch hat andere. An den Wänden hängen gerahmte, großformatige Schwarzweißfotos, Aufnahmen des Hotels aus besseren Tagen. Hinter einer Kantinentheke steht Madame Robespierre in ihrer weißen Uniform und der schwarzen Kopfbedeckung, die einem Cowboyhut für Kinder nicht unähnlich sieht. Randolph sagt, sie komme aus Haiti, Leonidas meint, sie sei Puertoricanerin, und Alfred und Mazursky tippen auf Mississippi oder Alabama, während Enrique behauptet, Madame Robespierre sei zweifelsfrei Kubanerin. Jeder hat für seine Theorie Erklärungen, aber nicht einmal Randolph, der die sechzig-, vielleicht siebzigjährige Frau eingestellt hat, Beweise. Das Essen, das sie mit dem wenigen Geld, das ihr zur Verfügung steht, jeden Morgen zubereitet und das ein wilder, sensible Mägen ignorierender Mix aus Cajun-Küche, Karibik und westlicher Fast-Food-Kultur ist, macht das Rätseln um ihre wahre Herkunft nicht einfacher, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie außer ein paar Worten melodischen Englischs keinen Ton von sich gibt.

Leonidas hat mir erzählt, dass es im Hotel bis vor einem halben Jahr noch ein Zimmermädchen gab, das Staub gesaugt und im Keller die Bettwäsche gewaschen und getrocknet hat. Als die Maschinen den Geist aufgaben, das Zimmermädchen eine alte Frau wurde und der Hotelbesitzer kein Geld für Neuanschaffungen lockermachte, verkündete Randolph, die Gäste müssten ab sofort ihre Zimmer selber sauber halten und die Bettwäsche auf eigene Kosten waschen lassen. Als Trost versprach er den maulenden Männern, Madame Robespierres Arbeitsplatz sei unantastbar.

Die Hälfte der Tische ist besetzt. Alfred schlingt Rühreier mit Schinken und Bohnen hinunter, Enrique schwitzt über einem Teller Eintopf und Reis. Mazursky kämpft mit einer Zeitung wie ein Tourist mit einem Stadtplan, während seine Krawatte in der Porridgeschüssel hängt. Elwood und ein alter Mann, der gelegentlich hier übernachtet und dessen Namen ich mir nicht merken kann, sitzen vor ihrer Tasse Kaffee und schweigen sich an, ein vom Leben ernüchtertes Ehepaar, das im Wartesaal die Abfahrt des Zuges verdämmert. Spencer, herausgeputzt wie zu einem Rendezvous, frühstückt englisch mit Tee und Toast und Orangenmarmelade, die er selber besorgt. Er nickt Aimee und mir zu und gießt dann Milch in seine leere Tasse.