Ich sage Madame Robespierre, dass Aimee mein Gast sei, und als sie mich fragend ansieht, lege ich kurz und eher pantomimisch meinen Arm um Aimee zum Zeichen unserer Zusammengehörigkeit. Madame Ro bespierre versteht und lacht und droht mir mit einem Schöpflöffel. Aimee lässt sich Spiegeleier geben und gebratene Tomaten und Würstchen und Bohnen in Tomatensoße und einen Stapel Toastbrot und dazu Kaffee. Ich bekomme mein übliches Kännchen Tee und eine Schüssel halbvoll mit Cornflakes. Wir setzen uns an den Tisch, an den ich mich vor fünf Tagen zum ersten Mal gesetzt habe. Leonidas, der sich nach dem Ende seiner Schicht mit einem Kaffee für den Heimweg stärkt, hatte mich aufgefordert, meinen Tee hier zu trinken statt alleine in meinem Zimmer. Der Tisch steht ein Stück weg von der Theke und ihren Gerüchen und den Männern, die schlürfen und schmatzen und dummes Zeug reden und sich mit Zahnstochern Fleischfasern zwischen den lockeren Brücken hervorpulen.
«Ist das alles?«fragt Aimee und deutet auf meine Cornflakes, die ich mit Milch übergossen habe. Doughnuts gibt es hier keine, dafür getrocknete Fische und grüne Papayas. Cornflakes, Toast und Haferschleim sind die einzigen Zugeständnisse, die Madame Robespierre an kontinentale Frühstücksgepflogenheiten zu machen bereit ist.
«Ja«, sage ich. Ich warte, bis sie isst. Ich kann nicht essen, wenn jemand am Tisch sitzt, es sei denn, dieser jemand isst auch. Wenn ich kaue, erscheint es mir unanständig laut, obwohl mein Mund geschlossen ist. Außerdem denke ich dauernd, dass mir Essensreste zwischen den Zähnen stecken oder in den Mundwinkeln kleben. Nach jedem Bissen wische ich mir mit einer Papierserviette die Lippen sauber und taste mit der Zunge diskret über die Zahnreihen.
«Du solltest mehr essen«, sagt Aimee. Sie tunkt ein Stück Brot in den Eidotter, steckt es zwischen die Lippen und leckt die Finger ab.»Was Richtiges. Nahrhaftes.«
«Damit ich groß und stark werde?«
Aimee sieht mich an, hört auf zu kauen und runzelt die Stirn.»Nein, damit du was im Magen hast«, sagt sie ernst und irgendwie vorwurfsvoll.»Die Arbeit hier ist bestimmt kein Spaziergang am Strand.«
«Ich esse zwischendurch was«, sage ich möglichst munter. Das mit dem groß und stark war dumm von mir. Aimee kann ja nichts von Pauline Conway ahnen. Davon, dass mich meine Mutterdarstellerin dauernd zum Essen genötigt hat. Der festen Überzeugung, dass zwischen meiner hageren Erscheinung und einem kräftigen Körper nur eine seit Jahren existierende Wüste des Mangels lag, die es in Begleitung einer Karawane aus Kohlehydraten, Fetten, Kalorien und Vitaminen zu durchqueren galt, hatte diese Frau so viel Essen vor mich hingestellt, dass die Fata Morgana meines zukünftigen Ichs vor meinen Augen in dampfenden Schleiern von Übelkeit verschwand. Ihr mit verbissener Fürsorglichkeit ausgearbeitetes Vorhaben, mich zu einem normalen Jungen zu mästen, scheiterte am Widerstand meiner Gene, und alles, was mir aus jener Zeit geblieben ist, sind chronische Appetitlosigkeit und Verstopfung. Drängt man mich dazu, ein Lieblingsgericht zu nennen, sage ich Reis mit Gemüse und Sojasoße. Aber eigentlich esse ich nicht gern, empfinde es nicht als lustvoll. Ich bin kulinarisch frigid.
Nach dem Frühstück geht Aimee. Sie will sich in der Bibliothek Zeitungsartikel ansehen, die über das Susan und Kate Caldwell Institut für Humanforschung berichten, die Stadt der Selbstmörder. Es ist kalt, aber es regnet noch immer nicht, und sie geht, eingehüllt in ihren Mantel und den Schal bis unter die Nase gewickelt, zu Fuß zur U-Bahn-Station. Die Nebenstraße, in der das Hotel liegt, ist fast menschenleer. Ein paar Autos fahren vorbei, langsam, als wüssten die Fahrer nicht, wohin sie wollen. Zwei schwarze Jugendliche stehen unter der hochgeklappten Kühlerhaube eines Wagens von der Sorte, wie ich sie aus vierzig Jahre alten Filmen kenne. Ein dritter sitzt hinter dem Steuer und raucht. Am Ende der Straße dreht Aimee sich um und winkt, und ich winke zurück.
Dann biegt sie um die Ecke. Winston sitzt mit einer erloschenen Zigarre im Mund vor dem Laden und sieht ihr nach. Als sie verschwunden ist, faltet er die Wolldecke, die über seinen Beinen gelegen hat, zusammen und erhebt sich, als sei eine Vorstellung zu Ende.
«Gleich regnet es«, verkündet er, bleibt einen Atemzug lang unschlüssig stehen und geht dann in seinen Laden.
Obwohl ich kaum Geld habe und mit der Arbeit beginnen sollte, folge ich ihm. Die Glocke, die über meinem Kopf an einem spiralförmigen Blechband hängt, klingelt, als die Tür hinter mir ins Schloss fällt. Der Laden ist ein langer Schlauch, der sich in der Mitte, wo Winston hinter dem Kassentisch sitzt, zu einem engen Korridor verjüngt, durch den man in den hinteren Teil gelangt, den Raum mit dem Plunder. Vorne, beschienen vom diffusen Licht zahlloser Deckenlampen, hat Winston seine Schätze auf Tischen und Regalen ausgebreitet. Vasen, bemalte Porzellankannen, Fotoapparate, bronzene Türklopfer, Kristallgläser, Spieldosen, Segelboote in Flaschen, dunkel angelaufenes Silberbesteck, mechanische Kaffeemühlen, Aschenbecher aus dem Ritz, handgeschliffene Karaffen, Operngläser, Flachmänner mit eingravierten Initialen, Parfümflakons mit paillettenbesetzten Zerstäubern, lange Reihen ledergebundener Bücher, Inseln aus Arztkoffern und Handtaschen, Schreibtischlampenwälder, Schallplattentürme.
In Vitrinen, deren winzige Schlüssel Winston an einer Kette um den Hals trägt, liegen Zigarettenetuis aus Silber, Armbanduhren, Perlenketten, Ohrringe, goldene Feuerzeuge. An den Wänden hängen gerahmte Ölbilder, Drucke und Stiche, daneben Jagdtrophäen, Spiegel, Hüte an Haken. Gerollte Perserteppiche stehen herum, Golftaschen, Angelruten, stumme Wanduhren, zwei Barhocker, ein Sofa, in den Ecken Sessel und Stühle und ein Totempfahl.
Der Gang zwischen den Tischen hindurch ist ein Gang zurück in der Zeit, ein Besuch im Museum der beendeten Träume und des verarmten Adels, der aufgelösten Haushalte und verhökerten Spielgewinne, Erbschaften und Diebesgüter und der gescheiterten Ehen und nicht eingehaltenen Versprechen, alles mit dem verstaubten Charme des Unnützen bedeckt, wertvoll und lächerlich und im Preis verhandelbar.
«Ich hab da was«, sagt Winston.»Genau das Richtige für dich.«
«Ich brauche nichts«, sage ich und betrete den zweiten Raum, wo dem Kunden der Müll des Alltags entgegenbrandet, das Strandgut der unteren Mittelschicht. Auf Metallregalen stehen Radios und Mikrowellengeräte und Saftpressen, höher oben Computer, Monitore und Drucker, Kameras, am Boden Fernseher, Bürostühle, Kühlschränke, Fitnessgeräte, Schlittschuhe, eine künstliche Palme. In einer Pappkiste liegen Videokassetten, in einer anderen elektrische Lockenwickler. Möbel stehen wahllos herum, Tische stapeln sich bis unter die Decke, Sessel bilden krumme Säulen, dazwischen stehen Schränke, in denen Pelzmäntel hängen, Fuchs, Kaninchen, Biber. Auf einem Regal liegen Hüte, ein Reithelm und der Zylinder eines Totengräbers. In eine Stuhllehne ist KATIE eingeritzt, in einen Baseballhandschuh hat ein Junge mit Kugelschreiber BOBBY SPARROW geschrieben. In der Schublade einer Kommode liegt eine Brille, auf dem Kissen im Kinderwagen ein Schnuller, in einem Buch eine Postkarte, auf der jemand das Wort Heimweh unterstrichen hat. Ich nehme einen Football in die Hand, an dem die Zahnabdrücke eines Hundes zu erkennen sind. In der Brusttasche einer Lederjacke steckt ein Einkaufszetteclass="underline" ZAHNPASTE, ROTWEIN, KERZEN, KATZENFUTTER. Ein einzelner roter Kinderfäustling liegt am Boden. An der Innenseite einer Schranktür steht in wackliger Schrift: MATT LIEBT SALLY, darüber schweben Herzen, tintenblau und ungelenk, wie verbeult.
Ich bin gerne hier drin. Es ist ein trauriger Ort voller unbedeutender Geschichten, ein Museum der Abschiede und Trennungen und Tragödien. Den Dingen haftet ein Geruch nach Staub und vergeblicher Mühe an, nach schnellem Geld und langsamem Untergang.