Выбрать главу

«Ich weiß, du würdest mir viele Gründe nennen, weshalb es sich gegen den Untergang zu kämpfen lohnt, ich kenne sie, und mich daran zu erinnern bricht mir das Herz. Aber es ist zu spät, mir fehlt es an allem, auch an der Kraft, für jemanden wieder ein ganzer Mensch zu werden. «Diese beiden Sätze schrieb Wilbur immer wieder, verworrene Linien auf brennbarem Material. Seite um Seite füllte er damit, Nacht um Nacht, das Zittern der Hand seines Vaters übernehmend. War er einmal einer der Gründe gewesen, für den es sich zu kämpfen gelohnt hätte, war er dieser Jemand, für den sein Vater wieder ein Mensch geworden wäre, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte?

Ja, der war er. Dieser Jemand musste er sein.

Als Pauline ihm sagte, Colm sei gestorben, rannte Wilbur aus dem Haus. Das war in der vierten Woche seiner Verbannung, in der Hälfte des Buches, in einer zeitlosen Zeit. Es regnete, der Tag war zu Ende und mit ihm die Arbeit des Lichts und das wenige Treiben auf den Straßen. Ed Mulqueen sah ihm aus dem gelb erleuchteten Viereck seines Schaufensters nach, Miss McNamara machte ihm erschrocken Platz, ein Auto, vor dem er über die leere Kreuzung hetzte, hupte, aber er hörte es nicht. Was er am Leib trug, war durchnässt, einen Hausschuh hatte er verloren, den zweiten weggeworfen. In Strümpfen platzte er in den Empfangsraum des Altersheims, hinterließ Pfützen auf der Treppe und stürzte in das Zimmer, das schon leer war, ausgeräumt für den nächsten. Er rief Colms Namen, schrie ihn, über den Flur rennend, die Treppe hinunter, ziellos, stürzend und sich aufrappelnd und aufgehalten schließlich von einem Pfleger, der breit und weiß war wie eine Wand und ihn festhielt. Eine der Pflegerinnen kam dazu, Julia Nesbitt. Sie kannte Wilbur und wusste, warum er hier war und nicht aufhören konnte, diesen Namen zu rufen, und warum er vor dem Pfleger auf den Boden sank und sich einrollte. Und sie ahnte, warum der Junge, der früher so oft gekommen war und den sie seit über einem Monat nicht gesehen hatte, keuchend und zitternd auf den Fliesen lag und nicht weinen konnte.

Ein Arzt, der auf Visite bei den Pflegefällen war, gab Wilbur ein Beruhigungsmittel. Der Junge wurde im Büro der Leiterin auf eine Wolldecke gelegt, wo er im Halbschlaf leise wirres Zeug stammelte. Pauline und Henry holten ihn ab, noch bevor jemand sie anrief. Pauline hielt Wilburs linken Pantoffel in der Hand, der am Straßenrand im Lichtkegel des Scheinwerfers aufgetaucht war, und konnte sich nichts erklären. Henry trug den Jungen ins Auto, mehrmals versprechend, die Decke gleich am nächsten Tag zurückzubringen. Zu Hause gab es heißen Tee mit Honig und zwei zerstoßenen Schlaftabletten, und Wilbur wachte bis zum Morgen kein einziges Mal auf.

Im Traum ritt er hinter Orla und Colm durch eine Stadt, deren Straßen aus Muscheln waren. Er wollte mit Orla reden, aber weder sie noch Colm hörte ihn. Sein Pferd blieb stehen, und Orla und Colm verschwanden im Licht, das durch ein Tor fiel. Wilbur rief den beiden nach, immer wieder.

Der halbe Ort kam zu Colms Begräbnis. Er hatte keine Verwandten gehabt, jedenfalls keine, die man hätte verständigen können. Eine Handvoll Männer in seinem Alter gab vor, seine Freunde gewesen zu sein, aber weder Wilbur noch Julia Nesbitt hatte jemals einen von ihnen im Altersheim gesehen. Leute, die Colm gemocht hatten, gab es reichlich, und sie alle standen an seinem Grab. Der Postbote, der Bäcker, der Futterhändler, die Heimleiterin, zwei der Pflegerinnen, Seamus Dougherty, der Tierarzt, Una O’Connell, die ihm alle zwei Jahre eine Hose verkauft hatte, John McGrath, der sich mit der Reparatur vorsintflutlicher Traktoren auskannte, Liam Doyle, in dessen Laden sich alle möglichen Dinge fanden, auch Bücher. Einige weinten, als der Pfarrer den Menschen Colm Finnerty heraufbeschwor.

Wilbur sah zu, wie der Sarg an zwei Seilen in die Grube gelassen wurde. Er weinte nicht. Sein Körper fühlte sich unendlich schwer an, zwei Klauen drückten seine Brust zusammen, in seinem Kopf brannte es. Pauline hielt sich im Hintergrund. Leichenblass stand sie im Rücken angetrunkener Bauern, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Henry hätte seine Hand auf Wilburs Schulter legen können, aber er tat es nicht. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Wolken verweilten und zogen weiter.

Der Hausarrest wurde aufgehoben, vielleicht auch einfach vergessen. Zu Hause redete Wilbur nicht mehr, in der Schule schwieg er, wann immer es ging. Er durfte wieder zu Matthew, aber es war nicht mehr wie vorher. Wenn Wilbur versuchte, auf dem Cello zu spielen, gelang es ihm nicht, die Töne waren falsch. Er hatte in Göteborg nicht gewonnen, das Stipendium erhielt der Junge aus Waterford. Die Entscheidung war knapp gewesen, und an der Feier waren Wilbur von verschiedenen Seiten Stipendien und Plätze an Musikschulen angeboten worden. Ein französischer Fernsehsender plante eine Dokumentation über junge Musiker und wollte nach Irland kommen, um ein Porträt von Wilbur zu drehen, aber er hatte abgelehnt. An jenem Abend in Göteborg wusste er nicht, wo er in einer Woche, einem Monat sein würde. Da wurde er noch von der Hoffnung getrieben, seinen Vater zu finden, und alles andere, auch seine Freundschaft mit Colm und Matthew, musste dahinter zurücktreten. Jetzt war er wieder da, der kurzzeitig abhanden gekommene Ziehsohn, der Schüler, der Gefährte auf dem letzten Weg, der Gescheiterte. Er hatte das Gefühl, etwas erklären, wiedergutmachen zu müssen, wusste aber nicht, wie. Im Exil seines Zimmers hatte er wirre Briefe an Matthew geschrieben, Seiten voller Entschuldigungen und hilfloser Rechtfertigungen, die er nie abschickte.

Am Tag nach Colms Beerdigung, als er Matthew Fitzgerald zum ersten Mal seit seiner Reise nach Schweden wiedersah, saßen sie in Matthews Wohnzimmer und tranken Tee. Wilbur, der sich seinem Freund und Lehrer gegenüber als Verräter fühlte, erzählte stockend von seinen Beweggründen, während die Katze ihn argwöhnisch beobachtete. Matthew hörte ruhig zu und zeigte dann weder Missbilligung noch Enttäuschung oder gar Zorn. Er hatte mit vierundzwanzig Jahren Mutter und Vater verloren und verstand sehr gut, warum Wilbur der Spur aus den Briefen gefolgt war. Er fühlte sich nicht ausgenutzt oder getäuscht, weil er Wilbur das Cellospiel beigebracht hatte. Wilbur hatte das Instrument lange vor der Entdeckung der Briefe beherrscht, seine Liebe zur Musik konnte unmöglich vorgetäuscht, keinesfalls Teil eines Plans gewesen sein. Nach Wilburs Beichte benutzte Matthew sogar Begriffe wie Schicksal und Bestimmung, und Wilbur nickte verlegen dazu, wohl wissend, dass der während seines dreitägigen Verschwindens vor Kummer gealterte Mann keine Erklärungen suchte, sondern Trost. Vielleicht, meinte Matthew, habe Wilburs außergewöhnliche Begabung ihren Zweck erfüllt, indem sie ihm zu einem Flug nach Schweden verholfen hatte. Vielleicht sei die kurze Zeit, in der Wilbur vom Anfänger zum Virtuosen katapultierte, nur die Vorbereitungsphase für diese Suche gewesen. Vielleicht habe Wilburs unermessliches Talent einzig dazu gedient, der Erfüllung einer Vorsehung den Weg zu bereiten, um dann möglicherweise vergessen zu werden, zu verkümmern, in der Stille zu versinken, aus der sie geweckt worden war.

Wilbur wusste die Antwort nicht, und Matthew rang ihm keine Versprechen, keine Vermutungen ab. Er sah, wie der Junge sich unter der Bürde der Ereignisse krümmte, wie er die fehlgeschlagene Fahndung nach dem Vater und Colms Tod zu verkraften versuchte, und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er ihm nicht helfen konnte.

Die Tage flossen zäh dahin, und dann passierte alles so plötzlich, dass Wilbur sich an keine Einzelheiten erinnerte. Eine Woche war seit Colms Tod vergangen, und noch immer sprach er weder mit Pauline noch mit Henry. Pauline glaubte es mit einer Phase zu tun zu haben, deren Ende absehbar war. Sie kannte sich mit verstockten, rebellischen Teenagern aus, Gott war ihr Zeuge. Sie kochte noch mehr als früher, bestand aber nicht mehr darauf, dass Wilbur seinen Teller leerte, sie kaufte ihm Kassetten mit klassischer Musik, und manchmal, nachmittags, wenn Henry nicht da war, legte sie sich auf ihr Bett und weinte.