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Mitten in der Woche ging sie zur Kirche, aber nicht einmal dort konnte sie sich zu der Frage überwinden, was sie möglicherweise falsch gemacht hatte. Sie zündete Kerzen an, eine für Wilburs Seelenheil, zwei für das eigene. Sollte sie etwa beichten, dass sie einen sechzehnjährigen Jungen gemaßregelt hatte, einen Heimlichtuer, Ausreißer und Lügner? Der Pfarrer würde sie auslachen. Wilbur hatte die Strafe verdient.»Züchtige mich, Herr, doch mit Maßen und nicht in Deinem Grimm, auf dass Du mich nicht aufreibest. «Jeremia, Kapitel 10, Vers 24. Sie hatte Wilbur mit Maßen gezüchtigt, und sie hatte es aus Pflicht ihm gegenüber getan, zu seinem Wohl und nicht im Zorn. Die Zeit allein in seinem Zimmer sollte dem Jungen die Möglichkeit geben, nachzudenken und mit sich und seiner Geschichte, seiner Herkunft ins Reine zu kommen. Sein Schweigen würde er bald beenden und ein neuer Mensch sein, gestärkt und geläutert, davon war Pauline überzeugt.

Henry war einfach nur ratlos. Er war Kummer mit Kindern, den eigenen und angenommenen, gewohnt. Er wusste, wie man einen Jungen nach einem verlorenen Fußballspiel aufmunterte oder was ein Mädchen hören wollte, das sich hässlich fühlte. Aber er hatte keine Ahnung, was er Wilbur sagen sollte. In all den Jahren hatte er den Jungen nie wirklich erreicht, obwohl er sich mehrmals bemüht hatte. Einen Kontakt zu dem jungen Burschen herzustellen, der noch immer aussah wie ein Kind, erschien ihm unmöglich, vor allem nach der Sache in Schweden. Die Bestrafung, die seine Frau über den Ziehsohn verhängt hatte, war ihm zu Beginn als angemessen erschienen, aber nach Colms Tod und Wilburs endgültigem Verstummen bereute er, nicht vehementer für eine vorzeitige Aufhebung des Hausarrests eingetreten zu sein.

In letzter Zeit saß Henry oft in seinem Büro in der Bank und sah auf eine leere Stelle an der gegenüberliegenden Wand. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie es war, jung zu sein, warum er Kreditanträge behandelte, statt in Afrika nach Fossilien zu suchen, wann es ihm das letzte Mal gelungen war, sich gegen seine Frau durchzusetzen. Im Geist ging er Jahre zurück, Jahre des Gleichmuts, der Duldsamkeit. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich zwei unbedeutende, lächerliche Triumphe über Pauline ins Gedächtnis zu rufen. Der erste war, als er Wilbur erlaubte, ihn bei der Ausräumung von Colms Haus zu begleiten, der zweite, als sie zu Eamon McDermott ins Heim unterwegs waren und er statt rechts, wie es Pauline wollte, links abbog. Dass er sich trotzdem verfahren hatte, spielte dabei keine Rolle.

So saß Henry bis zum Abend in seinem Stuhl und schämte und bemitleidete sich, bis das Telefon schrillte und seiner halbherzigen Selbstbefragung ein Ende bereitete.

Als er sich seinem Haus näherte, stieg ihm von Weitem der Rauch in die Nase. Er musste auf der Straße anhalten, weil zwei Polizeifahrzeuge in der Einfahrt standen. Der junge Patrick O’Leary klärte ihn über die Lage auf. Die Feuerwehr habe den Brand gelöscht und die Ambulanz Wilbur weggebracht. Es sei Schaum eingesetzt worden, kein Wasser, der Sachschaden deshalb gering. Henry fand Pauline in der Küche, wo sie zitternd einem Polizisten Auskunft gab. Sie fiel ihrem Mann in die Arme und ließ einen zweiten Weinanfall zu. Der Polizist, Ari Tikkanens Schwiegervater, erzählte ihm, Wilbur habe die Vorhänge seines Zimmers angezündet, die Feuerwehrmänner hätten ihn bewusstlos auf seinem Bett gefunden. Henry setzte sich. Paulines Hände umklammerten seinen rechten Unterarm. Der Polizist schilderte den Verlauf des Schwelbrandes, der in den Vorhängen, dem Bettvorleger und einer mit Kleidungsstücken gefüllten Kommode zu wenig Nahrung gefunden hatte, um sich richtig auszubreiten.

Henry hörte nicht zu. Er wusste plötzlich, warum er seine Söhne und Töchter und sogar die vom Schicksal so ungerecht behandelten Pflegekinder immer heimlich beneidet hatte. Weil sie an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben die Wahl gehabt hatten, ihre paar Sachen zu packen und dieses Haus zu verlassen. Weil trotz aller Widrigkeiten und falsch gestellter Weichen eine Zukunft vor ihnen lag, auf die diese Frau, die jetzt um Fassung rang und schluchzend Wörter wie Brandstiftung und Mordversuch hervorstieß, keinen Einfluss mehr hatte. Sogar Wilbur beneidete er, wie verzweifelt dessen Lage auch sein mochte.

Henry saß da und nickte, aber in Gedanken war er bereits weit weg.

Wilbur wachte mitten in der Nacht auf. Er öffnete die Augen, blinzelte ins Dunkel. Sein Kopf tat weh, seine Lungen schmerzten, wenn er atmete. Ein dünner Schlauch ragte aus seiner Nase, ein anderer aus seiner Armbeuge. Rauch war in seinem Körper, er konnte ihn riechen, schmecken. Wilbur erinnerte sich daran, was passiert war. Er setzte sich auf, schlug die Bettdecke zurück und tastete mit den nackten Füßen nach dem Boden. Eine Weile saß er auf der Bettkante und starrte vor sich hin. Durch ein Fenster fiel, von einem Vorhang gedämpft, schwaches Mondlicht in den Raum, unter einer Tür leuchtete ein Streifen gelber Helligkeit. Wilbur hörte Atemgeräusche, und als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er zwei Betten, von denen das eine belegt schien. Er zog vorsichtig am Schlauch, der aus seiner Nase hing, ließ ihn dann aber, wo er war. In seinem Rücken ertönte ein Ächzen, und als Wilbur sich umdrehte, sah er ein weiteres Bett. Ein schlafender Mann lag darin, dessen hell schimmerndes Gipsbein, von Seilzügen gehalten, schräg zur Decke hin ragte. Wilbur hustete, und als der Anfall heftiger wurde, legte er sich hin und bedeckte das Gesicht mit dem Kissen.

Irgendwann kam die Nachtschwester und sah nach den Patienten. Sie ließ die Tür zum Flur offen, von wo Licht hereinfiel. Wilbur war wach und fragte flüsternd, warum er hier sei. Die Schwester, eine alte Frau mit tiefer Stimme und kalten Händen, sagte etwas von Rauchvergiftung und gab Wilbur eine Tablette und lauwarmen Tee aus einer Schnabeltasse. Wilbur wollte wissen, ob das Haus der Conways noch stand, aber das wusste die Schwester nicht.

Drei Tage später wurde Wilbur aus dem Krankenhaus entlassen und in einem vergleichsweise gemütlichen Nebengebäude einer Nervenklinik im County Galway einquartiert. Nach einer schlaflosen Nacht musste er die Fragen eines Psychologen beantworten, der ein Gutachten erstellte. Wilbur machte sich gar nicht erst die Mühe, den Eindruck eines normalen Jugendlichen zu vermitteln. Er wusste inzwischen, dass das Feuer lediglich sein ehemaliges Zimmer verwüstet und sonst keinen Schaden angerichtet hatte, sah man davon ab, dass Pauline Conways Ruf als untadelige Pflegemutter endgültig ruiniert war. In seinem Bericht beschrieb der Psychologe, ein ehrgeiziger Mann mit einem Hang zu grellbunten Krawatten und Einstecktüchern, Wilbur als seelisch instabilen, in höchstem Maße verunsicherten Jugendlichen, dessen durch den Verlust der Eltern traumatisierte Kindheit Potential für selbstzerstörerische Akte bot, wobei Sachbeschädigungen und Gewalt gegen Personen seines Umfeldes nicht auszuschließen seien, wie die Brandstiftung deutlich gezeigt habe. Die außergewöhnliche Intelligenz und musikalische Begabung des Jungen seien Ausdruck einer extremen Introvertiertheit mit einer Tendenz zum Manisch-Depressiven, zudem verhindere sein Außenseiterstatus in der Schule sowohl die Entwicklung eines gesunden Charakters als auch die in diesem Alter so wichtige soziale Integration. Er sprach sich für eine Verwahrung mit Arbeitseinsatz und therapeutischer Betreuung aus, wobei er ein Strafmaß von mindestens drei und höchstens sechs Monaten für gerechtfertigt hielt.

Zu einem ähnlichen Schluss kam auch die Sozialarbeiterin, die mit Wilburs Fall betraut war. Nach einem Besuch bei Pauline, die ihren Ziehsohn als verschlossen und unberechenbar bezeichnete, unterstützte sie den Antrag des Psychologen, und Wilbur wurde in die Jugendbesserungsanstalt Four Towers in der Nähe von Sligo eingewiesen.