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Four Towers war bis zum Jahr 1963 eine Fabrik gewesen, in der Tweed- und Leinenstoffe hergestellt worden waren. Die meisten der Jungen, die dort einsaßen, waren kleine Lichter, was ihre kriminelle Vergangenheit betraf. Sie verbüßten Strafen für Ladendiebstahl und Sachbeschädigung, Fahren ohne Führerschein, Prügeleien und etwas, das auffälliges Sozialverhalten genannt wurde. Einige hatten ihre Väter, Lehrer und Chefs tätlich angegriffen, andere waren notorische Schulschwänzer und machten aus purer Langeweile ihre Wohngegend unsicher, fuhren auf Zugdächern und setzten Autos gegen Wände. Es gab Tierquäler und Steinewerfer, Maulhelden, Spanner, Randalierer, es gab Ausgestoßene, Missbrauchte, Täter und Opfer und angehende Verbrecher und Verlorene, und alle waren sie halbe Kinder, zu alt für Ohrfeigen und Nachsitzen und zu jung für richtige Gefängnisse.

Als die Fabrik nach Jahren des Verfalls zu ihrer heutigen Funktion umgebaut worden war, hatten die Verantwortlichen weniger das Wohl der zukünftigen unfreiwilligen Bewohner im Auge gehabt als die Zweckdienlichkeit der Anlage und geringe Baukosten. Im dreistöckigen Hauptgebäude waren neben dem Büro des Direktors und den Unterkünften für die Wachmänner die Waschräume, die Küche, der Speisesaal und die Schlafsäle der Zöglinge untergebracht. Es gab weiß getünchte, bilderlose Wände, polierte Holz- und Steinfußböden, Reihen zentimetergenau ausgerichteter Tische und Bänke, hohe Räume mit Betten aus Eisenrohr und lange, düstere Flure, in denen auch an heißen Sommertagen gruftige Kühle herrschte.

In zwei Nebenbauten befanden sich die Werkstätten, wo die jugendlichen Straftäter Weidenkörbe flochten, Leiterwagen bauten, Traktoren reparierten und sonstige Fronarbeiten verrichteten, um dem Staat nicht auf der Tasche zu liegen. Weil es im Winter in den unbeheizten, zugigen Holzbaracken zu kalt wurde, diente zwischen November und April der riesige Raum im Erdgeschoss als Werkstatt. Dort froren die Jungen etwas weniger und stellten Mause-, Ratten- und Maulwurfsfallen her. Gleich daneben lag die Krankenstation mit vier Betten und einem Behandlungsraum. Als Schwestern auf Abruf standen die Köchin und die Sekretärin des Direktors zur Verfügung, die jedes Jahr einen Erste-Hilfe-Kurs besuchen mussten und bei Notfällen einen Arzt aus Sligo oder die Ambulanz kommen ließen. Verletzte sich einer der Jungen ernsthaft, aber nicht lebensgefährlich, brachte ihn der Direktor in seinem Privatwagen ins Krankenhaus nach Sligo, weshalb auf der Rückbank des Range Rover stets eine Wolldecke und Mullbinden lagen. Diese Vorsichtsmaßnahme hatte Robert Moriarty getroffen, nachdem ein Junge, dem beim Sägen plötzlich zwei Finger fehlten, die Polster vollgeblutet hatte.

Im Schatten des Hauptgebäudes war ein Stück Rasen, das nicht betreten werden durfte und durch das ein schmaler Kiesweg zu einer Kapelle führte. Darin saßen jeden Sonntagmorgen etwa einhundertzwanzig Jungen auf harten Holzbänken und hingen ihren Gedanken und Träumen nach, während ein Pfarrer aus der Gegend ihre noch nicht gänzlich verlorenen Seelen zu erreichen versuchte oder ihnen versicherte, dass Gott ihre Sünden nicht ungeahndet ließ.

Die vier Türme, die der Institution ihren Namen gaben, waren 1972 errichtet worden, wenige Wochen nachdem es fünf Insassen gelungen war, am helllichten Tag über die Hofmauer zu klettern. Obwohl die Flüchtigen nur Stunden später gefasst wurden, veranlassten die zuständigen Stellen den sofortigen Bau der Wachtürme. Vor diesem Ereignis war die Anstalt nach einem Hügel benannt gewesen, dem Knockalongy, den man bei klarem Wetter in der Ferne erkennen konnte.

Als Wilbur durch das Fenster des Autos blickte, das ihn nach Four Towers brachte, sah er im verwaschenen Licht des frühen Tages einen dunklen Klotz aus Backstein in einem flachen Feld stehen. Die vier Türme waren aus Holz, im Zentrum ihrer Balkenkonstruktion verlief im Zickzack eine Treppe, über die man auf den geschlossenen, mit einem Suchscheinwerfer ausgestatteten Ausguck gelangte. Wolken hingen tief über dem Land, ein Nieselregen trübte die Sicht, sodass Wilbur keine Wachmänner ausmachen konnte. Der Fahrer des Wagens, ein junger Polizist aus Letterkenny, hatte im Radio einen Sender mit Popmusik eingestellt, um den verloren auf der Rückbank sitzenden Jungen aufzumuntern.

Aber Wilbur tauchte nur einmal aus seinem Dämmerzustand auf, als Sinéad O’Connor Nothing Compares To You sang. Er weinte, und der Beamte sah in den Innenspiegel und sagte, er solle die Sache nicht so schwernehmen, Four Towers sei kein richtiges Gefängnis und Wilbur werde bestimmt bald wieder draußen sein. Dann hielten sie am Haupttor an, und der Polizist stieg aus, um zu klingeln und Wilburs Überweisungspapiere einem Mann in Uniform auszuhändigen, der durch eine kleine Tür neben dem Tor getreten war. Wilbur weinte nicht mehr. Er saß mit geschlossenen Augen da, hielt in der einen Hand den reitenden Indianer fest und in der anderen Colms Nashorn und wartete ab, was geschehen würde.

Als erstes musste Wilbur sich beim Direktor melden. Ein Wärter brachte ihn zum Büro, wo Miss Rodnick, die Sekretärin, eine Weile seine Akte studierte, bevor sie ihn zu ihrem Chef ließ. Robert Moriarty war ein stiller, nachdenklicher Mann Mitte fünfzig, der Opern liebte und Tauben züchtete. Er hatte dunkelbraunes, dichtes und für seine Position etwas zu wirres Haar und ging an einem Stock, seit er sich als Kind bei einem Sturz vom Dach die Hüfte gebrochen hatte. Seine Stimme war tief, er sprach langsam und machte an den unerwartetsten Stellen lange Pausen, während denen er an etwas ganz anderes zu denken schien.

Die Einrichtung des Büros war spartanisch, woran auch das Ölgemälde nichts änderte, das an der Wand hinter dem Schreibtisch hing und eine Wiese mit Pferden zeigte, über denen Sonnenstrahlen durch einen Gewitterhimmel drangen. Four Towers wurde durch Steuergelder und Spenden finanziert, und Moriarty fiel es nicht im Traum ein, auch nur einen Teil dieses Geldes für eine neue, modernere Büroausstattung auszugeben. Einen Perserteppich, eine mit Intarsien verzierte Kirschholzkommode, die eine Bar enthielt, und zwei weitere Ölgemälde hatte er gleich nach seinem Amtsantritt durch einen Antiquitätenhändler in Dublin verkaufen lassen und den Erlös zur Anschaffung neuer Kochherde benutzt. Anders als sein Vorgänger, betrachtete Moriarty Bescheidenheit als eine der hehrsten Tugenden, und wie als Symbol dafür stand auf seinem Tisch eine Kaffeetasse, die vor Jahren zerbrochen und von ihm eigenhändig zusammengeleimt worden war.

«Sandberg. Kein irischer Name«, sagte Moriarty, während er etwas auf ein Blatt Papier schrieb.

Erst als Moriarty ihn ansah, wurde Wilbur bewusst, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde.»Schwedisch, Sir«, sagte Wilbur.»Mein Vater ist… war…«

«Hier drin steht«, Moriarty tätschelte Wilburs Akte,»dass wir uns auf unbestimmte Zeit um dich kümmern sollen. Was sagst du dazu?«

Wilbur senkte den Kopf und zuckte mit den Schultern. Moriarty erhob sich, nahm den Stock, der am Schreibtisch lehnte, und ging zum Fenster, um in den Regen hinauszusehen. Wilburs Hände lagen auf den Knien. Obwohl er die Indianerfigur und das Nashorn in den Hosentaschen spürte, fühlte er sich einsam und mutlos. Er hatte in den vergangenen Nächten kaum geschlafen und war plötzlich unendlich müde. Was sollte er antworten? Dass es ihn nicht kümmerte, wie lange man ihn hier einsperren würde? Dass er froh war, dem Haus der Conways entkommen zu sein, obwohl er nicht wusste, ob ihn hier Schlimmeres erwartete? Dass Bestrafung ihm gleichgültig war, weil sein Leben ihm nichts bedeutete?

«Was mich betrifft, so…«Moriarty verstummte und sah einer aschgrauen Wolke nach, die bedächtig erst über einen, dann den zweiten Turm strich und schließlich aus seinem Blickfeld verschwand.»… will ich dich auf keinen Fall länger als sechs Monate hier haben. «Er drehte sich zu Wilbur um und sah ihm in die Augen.»Verstanden, junger Mann?«