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Ich gehe neben Aimee durch ein Tor, hinter dem ein geteertes, von Müllcontainern und weiteren Fahrrädern besetztes Rechteck liegt. Aimee öffnet die gelb gestrichene Haustür, dann stehen wir einen Atemzug lang im Dunkeln, bis sie das Licht anknipst und im Schein der Deckenlampe ein enges Treppenhaus vor uns liegt.

Als das Licht in der U-Bahn wieder angegangen war, entstand ein merkwürdiger Moment, während dem ich nicht wusste, ob ich Aimees Hand weiter festhalten oder loslassen sollte. Dann war der Frau auf dem Sitz vor mir der Schlüsselbund hinuntergefallen, und ich konnte ihn aufheben, was den Rückzug meiner Hand weniger peinlich machte. Wir sind an einer Haltestelle ausgestiegen, deren Namen ich mir nicht gemerkt habe, und zu Fuß weitergegangen. Einmal mussten wir einer Gruppe von Kindern mit einem angeleinten Hund ausweichen, und unsere Arme berührten sich, aber als ich zögernd nach Aimees Hand tastete, griff ich ins Leere, weil Aimee in eine Seitenstraße einbog.

Während wir an Wäschereien, Pizzabuden, geschlossenen Bars und Restaurants, an Wohnhäusern, Garageneinfahrten, verwahrlosten kleinen Parkanlagen, eingezäunten Sportplätzen, mit Eisengittern abgetrennten Höfen, aufgelösten Tankstellen und lückenhaften Bauzäunen, an bunten Holzhäusern mit blumengeschmückten Veranden und herausgeputzten Vorgärten und offenen Hauseingängen vorbeigingen, redete Aimee fast ununterbrochen. Sie erzählte von den Leuten, mit denen sie sich die Wohnung teilt, von Ruth, die irgendwas studiert, von Sheila, der Köchin, und von Stewart, der im nahe gelegenen Zoo arbeitet und ein toller Hecht zu sein scheint. Jedenfalls schwärmte Aimee geradezu von ihm, und nach wenigen Minuten hasste ich den Kerl. Aimee meinte, Stewart würde den Job des Tierpflegers von Grund auf lernen und es sei unglaublich, was er täglich erlebe. Ich kenne diese Sorte Angeber. Bestimmt karrt er den ganzen Tag Elefantenscheiße durch die Gegend und erzählt am Abend seinen Mitbewohnerinnen, er hätte einem Tiger einen Dorn aus der Pranke gezogen.

Die Wohnung liegt im dritten Stock, hat vier Zimmer, Küche und Bad. Im Flur stehen ein Paar schwarze Gummistiefel und riesige Basketballschuhe, die bestimmt Stewart gehören. An seiner Zimmertür hängt ein metallenes Krokodil, mit dem man anklopfen soll. Die Zimmer sind winzig. Aimee besitzt eine Matratze, einen Schrank, einen Schreibtisch und einen Stuhl. Ein Computer steht auf dem Tisch, darunter ein Drucker und ein Stapel Papier. In Regalen türmen sich Bücher und Zeitschriften. An der Wand über dem Schreibtisch hängen Notizzettel und Zeitungsausschnitte, mittendrin ein Foto, das einen vielleicht fünfundzwanzig Jahre alten Mann zeigt. Er steht vor einem Garagentor, lächelt ein wenig unsicher und stützt sich auf eine Schneeschaufel.

«Ich brauche nicht viel«, sagt Aimee, und es klingt wie eine Rechtfertigung. Sie nimmt ein paar Kleider vom Bett und streicht die Decke glatt.

«Es ist nett«, sage ich, obwohl ich mir vorgenommen hatte, dieses Wort nicht zu verwenden. Ich stehe da und überlege, was ich zu dem Zimmer noch sagen könnte, aber mir fällt nichts ein. Aimee räumt einen Teller mit Orangenschalen und eine Tasse in die Küche. Ich sehe aus dem Fenster, um einen Kommentar über die Aussicht vorzubereiten, aber da ist nur die Klinkermauer des Nachbarhauses. Die meisten Bücher sind über Psychologie und Journalismus, von den wenigen Romanen kenne ich keinen einzigen.

«Tee oder Kaffee oder was Kaltes?«ruft Aimee aus der Küche.

«Kaffee«, rufe ich zurück. Eine Cola wäre mir jetzt lieber, aber die Zubereitung des Kaffees wird Aimee eine Weile beschäftigen. Ich brauche noch einen Augenblick, um herauszufinden, ob ich überhaupt hier sein will. Es ist kurz vor vier. Irgendwann gegen Abend werden alle nach Hause kommen, und Aimee wird mich ihnen vorstellen. Stewarts Händedruck wird übertrieben kräftig sein, die Studentin wird mich einen Moment lang irritiert betrachten und dann beteuern, wie nett es sei, mich kennenzulernen, und die Köchin wird fragen, ob ich Veganer sei. Wenn ich Pech habe, werde ich zum Abendessen eingeladen. Die Köchin wird bestimmt etwas zubereiten, das ich hasse, und ich werde es aus Höflichkeit hinunterwürgen, während Stewart erzählt, wie er ein vermeintlich totgeborenes Nashorn wiederbelebt hat. Die Studentin wird wissen wollen, wo Aimee und ich uns begegnet sind, und Aimee wird einen Augenblick zögern und dann die Wahrheit sagen. Die drei werden sich plötzlich sehr intensiv mit dem Essen auf ihren Tellern beschäftigen, ein paar unverfängliche Bemerkungen machen und das Thema wechseln. Sie werden sehr freundlich sein und mich erst zerpflücken, wenn ich weg bin.

Nein, ich will nicht hier sein. Die Hände in den Taschen, stehe ich mir selber im Weg herum. Ich überlege noch immer an einer Bemerkung zu diesem Raum, etwas locker Dahingesagtem, aber mein Kopf ist leerer als diese vier Wände, und außerdem wäre es jetzt sowieso zu spät. In meinem Hotelzimmer könnten Aimee und ich auf dem Bett liegen und aus den Wasserflecken an der Decke Tiere lesen und Zeppeline und Dampfschiffe. Wir könnten dafür sorgen, dass uns warm wird, während aus Dobbs’ Zimmer leise Musik herüberdringt und sich mit dem Geräusch des Regens mischt.

«Milch und Zucker?«

«Ja, bitte. «Ich gehe in die Küche, einen hellen Raum, der von einem Tisch und sechs Stühlen beherrscht wird und dessen Wände in unregelmäßigem Orange gestrichen sind. Aimee drückt die Tür des Kühlschranks mit dem Fuß zu und stellt eine Packung Milch auf die Spüle. Natürlich hängt ein Plakat des New Yorker Zoos an der Wand, und natürlich zeigt es einen Tiger. Vor diesem Bild sitzt Stewart bestimmt jeden Abend und verzapft den drei hingebungsvoll lauschenden Frauen seine Märchen.

«Ich hab überhaupt keine Möbel«, sage ich. Dann erst frage ich mich, warum ich das gesagt habe.

Aimee sieht mich an. Wahrscheinlich stellt sie sich dieselbe Frage.»Im Hotel. Die einzigen Dinge, die mir gehören, sind der Steinzeitfernseher und die Heizung.«

«Ich hatte mal eine Menge Möbel«, sagt Aimee,»aber sie wurden gestohlen. «Sie gießt kochendes Wasser über den Kaffee und wartet, bis es durch den Filter getropft ist. Die feinen Haare in ihrem Nacken leuchten im Licht der Papierlampe, die als weißer Mond über dem blauen See des Tisches schwebt.»Vor ein paar Jahren, in Queens. Zwei Wochen nach dem Einzug war alles weg. Bis auf die Matratze, Bücher, Kleider und Kleinkram.«

Ich würde gerne Aimees Kleinkram sehen, gerne wissen, was sie im Lauf der Jahre gesammelt hat. Ob sie Steine vom Strand mitgenommen, Figuren aus Cornflakes-Packungen behalten hat, ob sie in einer verbeulten Keksdose Spielsachen aufbewahrt und Fotos und Briefe und ob sie genauso an den Dingen hängt wie ich.

Stattdessen frage ich:»Hattest du eine Diebstahlversicherung?«Das letzte Wort klingt so banal und obszön, dass ich schreien möchte, um seinen Nachhall zu übertönen.

Aimees Kopf ist leicht schräg gelegt, und sie sieht abwesend oder verträumt zu, wie der Kaffee durch den Filter rinnt und sich in der Glaskanne sammelt. Eine Haarsträhne hängt ihr ins Gesicht und bewegt sich leicht im Rhythmus ihrer Atemzüge. Sie fährt sich mit der Zungenspitze über die Lippen, die spröde und rissig sind wie meine. Ich würde gerne hinter sie treten und die Arme um sie legen und sie auf den Hals küssen, aber das geht nicht, nicht nach einem Satz, der mit dem Wort Diebstahlversicherung endete. Ich frage mich, ob sie mich jetzt für einen totalen Vollidioten hält.

«Nein«, sagt Aimee. Sie schüttet das restliche Wasser in den Filter und stellt den Kocher weg.»Ich mag Versicherungen nicht. «Dann belädt sie ein Tablett mit der Kanne, zwei Tassen und Löffeln und der Milchtüte.»Der Zucker ist da«, sagt sie, deutet auf einen offenen Schrank und geht aus der Küche.

Ich folge ihr mit der Zuckertüte, aus der ein Löffel ragt, in ihr Zimmer. Wir setzen uns auf den Boden, mit dem Rücken zum Bett, und sie schenkt Kaffee ein. Dann gießt sie Milch in meine Tasse und gibt zwei Löffel Zucker dazu. Dass sie sich daran erinnert, macht mich glücklich, und ich will ihr das sagen, aber dann warte ich zu lange, und der Moment ist vorbei. Sie trinkt einen Schluck ihres schwarzen Kaffees, steht auf und nimmt einen Stapel Papier vom Tisch, den sie mir reicht. Es sind vielleicht zwanzig Seiten, große Schrift, doppelter Zeilenabstand. Auf dem obersten Blatt steht: Ein Spielplatz für Selbstmörder, darunter, etwas kleiner: Unhaltbare Zustände im Caldwell Institut und: Von Aimee Ward.