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«Aim, ich muss dir unbedingt… oh…«Der Typ, der im Türrahmen steht, muss Stewart sein. Er ist groß und kräftig, und seine Haut ist noch immer braun vom Sommer. Er trägt Jeans und ein kariertes Baumwollhemd über einem T-Shirt, auf dem BON JOVI steht. Wenn ich so was anziehe, sehe ich aus wie zwölf. Jetzt, wo Stewart vor mir steht, hasse ich ihn nicht mehr. Ich bin nur plötzlich sehr müde. Ich dachte, ich hätte das hinter mir, aber ich bin neidisch auf diesen Kerl, weil er mich um fast zwei Köpfe überragt und weil er vor Selbstbewusstsein strotzt. Und weil sein Zimmer drei Schritte von Aimees entfernt liegt. Stewart sieht kurz über seine Schulter und mustert mich dann.

«Du bist…«

«Ich bin«, sage ich und lasse es dabei bewenden. Stewart ist für einen Augenblick verwirrt, dann lächelt er.

Aimee kommt mit einem Lappen und einem Geschirrtuch aus der Küche.

«Hi, Stew. «Sie geht an ihm vorbei, kniet sich hin und schrubbt an dem Fleck herum.

«Aim, du wirst es nicht glauben. Ich hab dir doch gestern von diesem Puma erzählt, Chuck.«

«Lass mich raten«, sage ich, all meinen Mut und meine Feigheit zusammennehmend, und gehe an Stewart vorbei auf den Flur,»du hast Chuck einen Zahn gezogen. Einen vereiterten. Ohne Betäubung. Mit bloßen Händen. «Ich gehe zur Wohnungstür, öffne sie und trete ins Treppenhaus. Ich lasse die Tür hinter mir zufallen. Das Licht geht aus, und ich stehe eine Weile da.

Aimee kommt nicht hinter mir hergelaufen. Sie ruft nicht einmal nach mir. Eine Weile warte ich noch, dann gehe ich langsam im Stockdunklen die Stufen hinunter.

Der Regen ist in dichtes Nieseln übergegangen, eins von der Sorte, das einen in kürzester Zeit bis auf die Knochen durchnässt. Ich bleibe am Tor stehen und sehe in beide Richtungen die Straße hinunter. Ich habe keinen Schimmer, wo es langgeht. Der Anblick von Stewarts amputiertem Rad tröstet mich kein Stück.

«Hey, Will!«

Ich drehe mich um. Aimee steht an einem Fenster im dritten Stock. Wasser läuft mir ins Genick und am Rücken hinunter, und ich ziehe den Kopf zwischen die Schultern.

«Wo willst du hin? Komm wieder hoch!«

Ich spiegle mich in einer Pfütze. Von dort oben sehe ich vermutlich aus wie ein Zwerg, ein jämmerlicher, kindischer Gnom, ein begossener Pudel. Ein sturer Trottel, der den gesenkten Kopf schüttelt.

«Du holst dir eine Erkältung!«

Das hat Orla oft zu mir gesagt. Du holst dir eine Erkältung. Zieh dir etwas Warmes an. Komm rein, der Tee ist fertig. Wenn der Regen schneller kam, als ich rennen konnte, rieb sie mir die Haare mit einem Handtuch trocken. Dabei schloss ich die Augen und dachte, dass so das Leben zu sein hatte. Genau so. Dass, wann immer man nass war und fror, es jemanden geben sollte, der einen wärmte.

Ich werde Aimee bitten, mit mir einen Kaffee zu trinken. Irgendwo in der Nähe gibt es bestimmt ein Lokal, wo wir uns in eine ruhige Ecke setzen können. Vielleicht heißt die Kellnerin Francine oder Florence und schwatzt uns einen Teller Suppe auf, weil ich klatschnass bin. Vielleicht sind die anderen Gäste alte Männer, die Domino spielen und über das Wetter und die missliche Lage der Welt reden. Vielleicht dringt Musik aus einem Radio durch die offene Küchentür, während ich Aimee von mir erzähle. Von meiner Mutter, die ich nie gesehen habe, und meinem Vater, den ich nicht kenne. Von Orla und Colm und Matthew und davon, dass ich mich nicht umbringen wollte, jedenfalls nicht in Vermeers Stadt. Dann werde ich ihr sagen, dass ich sie liebe. Und sie wird mir vermutlich sagen, dass sie mich mag, aber nicht liebt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es unangenehm werden, aber das ist mir egal. Ich habe diese drei Worte noch nie zu jemandem gesagt, nicht als Erwachsener jedenfalls. Es wird endlich Zeit. Auch wenn ich mich lächerlich mache und alles in einem Desaster endet.

Der Regen wird wieder heftiger, aber mir ist nicht kalt. Ich hebe den Blick zum Fenster, wo Aimee nicht mehr steht. Bestimmt kommt sie gleich runter, und wir können los.

The Fifth Element, 1997

Hatte Wilbur vor ein paar Tagen noch gedacht, die Weihnachtsfeier in Four Towers sei an Tristesse nicht zu überbieten, wurde er am Neujahrsfest eines Besseren belehrt. Im Speisesaal waren ein paar farbige Luftballons und Papierschlangen an Schnüren aufgehängt, und auf den Tischen lagen die in weiße Farbe getauchten Tannenzweige vom Heiligabend, über die etwas Konfetti gestreut worden war.

Nach dem Abendessen hielt Robert Moriarty eine Rede, in der achtmal das Wort Zukunft vorkam. Worauf sich die Aufmerksamkeit der Jungen richtete, waren jedoch nicht die gutgemeinten Ratschläge des Direktors, sondern die Brüste seiner Frau Elizabeth. Sie hatte Robert vor einem halben Jahr geheiratet, und es war ihr erstes Silvester im Erziehungsheim. Während ihr Mann von Tugenden und Anstand sprach, hefteten sich die Augen zahlloser in sexuellen Nöten steckender Burschen auf den Busen der Frau, die neben dem Rednerpult saß und an den weißen Handschuhen in ihrem Schoß zupfte.

Auch Wilbur sah hin, aber nicht aus purer Geilheit, sondern weil ihm der Anblick eines weiblichen Wesens ein wenig Trost verschaffte. Miss Rodnick war, wenn sie sich überhaupt einmal im Flur vor dem Büro oder beim Gang über den Hof zeigte, ebenso unnahbar wie unattraktiv, und Geraldine sorgte mit ihrer ruppigen Art dafür, dass die Jungs sie gar nicht erst als Frau wahrnahmen. Denjenigen, die es dennoch taten und lüstern auf ihren Hintern schielten, wenn sie sich bückte, zog sie eins mit dem Kochlöffel über. Elizabeth Moriarty, großgewachsen und mit einer zerstreuten Traurigkeit in den graublauen Augen, erinnerte Wilbur an eine Frau, die er zu kennen glaubte, deren Gesicht und Stimme er sich jedoch nicht ins Gedächtnis rufen konnte.

Aus einem Grund, der ihm verborgen war, musste er im erbärmlich dekorierten Speisesaal an sonnendurchflutete Landschaften denken, an gewundene Feldwege und blaue Himmel, in denen unerreichbare Vögel flatterten, an sommerwarme Wiesen und von grünen Hügeln gesäumte Täler, in die er hineinglitt wie in einen flackernden Tunnel. An all das musste er beim Betrachten von Elizabeth Moriarty denken, deren gewelltes Haar im Schein der an Schnüren baumelnden Laternen rötlich schimmerte.

Ab und zu blickte Wilbur zur Seite. Conor saß drei Reihen weiter vorne und schien ebenfalls in die Betrachtung der Oberweite von Moriartys Frau versunken. Wie immer, wenn er Conor sah, fochten zwei Mächte in Wilbur einen erschöpften Kampf. Die eine wollte, dass er sich mit dem alten Freund versöhnte und ihm verzieh, wollte vergessen und abschließen und dort anknüpfen, wo vor sieben Jahren alles aufgehört hatte. Die andere sah nur das Gesicht, das voller Hass gewesen war, die Hand, deren Finger den Abzug gezogen und die Welt in Dunkelheit gestürzt hatte. Conors Worte gingen unter im himmelzerreißenden Knall des Revolvers. Wilbur hörte die Entschuldigung nicht, nicht die Beteuerungen und die Reue und den Schmerz. Hätte Conor Lynch an jenem Tag nicht auf seinen Vater geschossen, wäre das Pferd nicht losgaloppiert und in Orlas Wagen gerannt. Orla würde noch leben. Wilbur wäre nicht zu Pflegeeltern gekommen, hätte sein Zimmer nicht in Brand gesteckt und säße jetzt nicht hier und müsste sich eine Rede über die Verheißungen der Zukunft anhören.

Irgendwann war die Rede zu Ende. Nachdem die Tische und Stühle zur Seite geschoben worden waren, scherbelte bis fünf Minuten vor Mitternacht aus einem der Bezeichnung Stereoanlage spottenden Gerät Musik, die Robert Moriarty für Pop hielt, und ein paar der Jungen tanzten sich auf der freien Fläche ihre Wut und Frustration aus dem Leib. Um Mitternacht wurde mit alkoholfreiem Fruchtpunsch auf das Neue Jahr ange stoßen. Zehn Minuten später mussten die Jungen in die Wasch räume und dann ins Bett, um Punkt halb eins wurden die Lichter gelöscht. Danach hatten die Zöglinge noch ausreichend Zeit, sich Gedanken über die Ansprache des Direktors zu machen. Stattdessen träumten sie von weichen Brüsten und knirschten vor Sehnsucht mit den Zähnen.