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Conor war seit drei Jahren und zwei Monaten in Four Towers. Nachdem er auf seinen Vater geschossen hatte, war er nach Donegal überführt worden, wo er die Nacht auf der Polizeiwache verbracht hatte. Danach hatte man ihn in Sligo verhört und ihn dann in Galway vom selben Psychologen begutachten lassen, der fünf Jahre später auch einen Bericht über einen Cello spielenden Brandstifter verfassen sollte. Anders als bei Wilbur befand der Psychologe jedoch, dass es sich in Conor Lynchs Fall nicht um die Verzweiflungstat eines im Grunde sensiblen und hochintelligenten Kindes handelte, sondern um den kaltblütig versuchten Mord am verhassten Vater, ausgeführt von einem zu Gewalt neigenden Burschen, der auch mehrere Wochen nach dem Verbrechen keine Reue zeigte. Ein Gutachten der Sozialbehörde wies darauf hin, dass die Mutter mit der Weiterführung des Sägewerks, der Erziehung der Tochter und der Betreuung des behinderten Sohnes völlig ausgelastet und der Verbleib Conors in der Familie nicht zu verantworten sei. Aufgrund dieser Einschätzungen wurde Conor, damals zwölf Jahre alt, der Obhut des Staates übergeben.

Die ersten anderthalb Jahre saß er in der Besserungsanstalt für minderjährige Straftäter im County Limerick, wo er neun Stunden täglich Besenstiele lackierte und zweimal in der Woche einen Therapeuten zur Verzweiflung brachte, indem er den Mund nicht öffnete. Dann wurde er probeweise in einen von katholischen Mönchen und ehemaligen Sträflingen geführten Landwirtschaftsbetrieb in Cavan gesteckt. Dort wollte man ihn jedoch bereits nach einem halben Jahr nicht mehr haben, weil er die eingesperrten Kaninchen, Ziegen und Hühner freiließ und sich weigerte, am Schlachttag mitzuhelfen. Zurück am alten Ort, benahm er sich mustergültig und wurde ein Jahr später nach Four Towers verlegt. Hier gehörte er zwar nicht zu den Vorzeigejungen, die bei Besuchen von höherer Stelle im Hof Spalier standen und handgeschnitzte Heugabeln an Kommunalpolitiker verteilten, fiel aber auch nicht oft genug auf, um zu den Problemfällen zu gehören.

Direktor Moriarty betrachtete es als seine moralische Verpflichtung, jedem Jungen eine zweite Chance zu geben, auch Conor Lynch. Er tat das, obwohl er in Conors Akte ein dickes rotes Ausrufezeichen gemalt hatte, das Vorsicht, und daneben ein schwarzes Kreuz, das Mordversuch bedeutete. Neben Conor gab es drei weitere Jungen, deren Akten diese Symbole zierten. Andrew Sheahan hatte auf den Saufkumpan seines Vaters eingestochen, der seiner kleinen Schwester zu nahe gekommen war, Padraig McLoughlin hatte versucht, seine Stiefmutter zu vergiften, und Liam O’Toole war nach einer Schlägerei neben seinem halbtoten Freund aufgewacht.

Moriarty ließ keinen Zweifel daran, dass sich diese Burschen eine große Schuld aufgeladen hatten und zur Rechenschaft gezogen werden mussten, aber sie waren für ihn keine Schwerkriminellen, die es wegzusperren galt. Seine Lebensaufgabe sah er darin, die Zöglinge in Four Towers zu tüchtigen, verantwortungsvollen Menschen heranzubilden, und die Conors Entwicklung betreffenden Notizen, die er in die Akte eintrug, belegten dieses Vorhaben. Tauchten in den Vermerken zu Beginn noch Adjektive wie aufmüpfig, störrisch, aggressiv und unruhig auf, wurden diese im Laufe der Zeit ersetzt durch anpassungsfähig, wissbegierig und kooperativ. Moriarty beobachtete Conors Verhalten sehr genau und beabsichtigte, sich bald für den Jungen einzusetzen und zu bewirken, dass er zurück zu seiner Familie konnte.

Conor hatte alles getan, um vorzeitig wegen guter Führung entlassen zu werden. Er arbeitete fleißig, meldete sich oft freiwillig zum Putz- oder Gartendienst, er prügelte sich nie, bestahl seine Kameraden nicht und übernahm bei jeder Gelegenheit das Ausmisten des Taubenschlages. Was noch fehlte, war ein Gespräch mit dem Direktor, bei dem er endlich Reue zeigte, seinen Vater zum Invaliden gemacht zu haben.

Sean Lynch war nach drei Wochen aus dem künstlichen Koma geholt worden, lag noch fünf Wochen auf der Intensivstation und weitere acht in der Abteilung für Hirnverletzte. Er konnte seit dem Tag, an dem sein Sohn auf ihn geschossen hatte, nicht mehr sprechen. Sein rechter Arm gehorchte ihm kaum noch, sein rechtes Augenlid hing herab, und er erkannte niemanden mehr, auch nicht seine Frau und seine Tochter. Er musste gebadet und gefüttert werden, und wenn er mit der linken Hand ein paar zittrige Striche und krumme Linien, die eine unbeschädigte Kammer seines Hirns für Buchstaben hielt, auf einen Zettel kritzelte, vergingen oft Stunden. Nach drei Monaten wurde er in eine Rehabilitationsklinik im County Cork verlegt, wo er sich so weit erholte, dass ein Wohnheim für Behinderte in Dublin ihn aufnahm. Dort durfte er in der Werkstatt Bilderrahmen schleifen, was er mit versunkener Hingabe tat. Beim ungelenken Hantieren mit dem Schleifpapier lächelte er oft, als erinnere ihn der Geruch des Holzes an etwas Schönes.

Im ersten halben Jahr besuchte Aislin ihren Mann alle zwei Wochen, und einmal im Monat nahm sie Fiona mit. Das damals vierjährige Mädchen begriff nicht, was mit ihrem Vater geschehen war. Er redete nicht mehr und sah komisch aus, und wenn sie ihm eine Zeichnung hinlegte, betrachtete er das Blatt stumm und so lange, dass sie verlegen wurde. Nach anderthalb Jahren war Sean so weit, in der Möbelwerkstatt arbeiten zu können, erst in der Fertigung, dann an den Maschinen, mit denen das Holz zugesägt wurde. Er lernte langsam zu sprechen, und mit seinem linken Arm war er so geschickt wie früher mit dem rechten. Im Frühling des zweiten Jahres teilte die Leitung des Behindertenwohnheims Aislin mit, die Genesung ihres Mannes sei so weit fortgeschritten, dass er ins normale Leben entlassen werden könne.

Aber das Zuhause, das in Sean vielleicht etwas wachgerufen hätte, wenn seine Erinnerung nicht von einer glühenden Kugel ausgelöscht worden wäre, gab es nicht mehr. Aislin hatte das Sägewerk und das Wohnhaus verkauft und lebte mit Kieran und Fiona in einem Cottage außerhalb Sligos, von wo es regelmäßige Zugverbindungen nach Dublin gab. Zudem waren es vom neuen Wohnort nur ein paar wenige Kilometer bis Four Towers.

Es war unmöglich zu sagen, ob Kieran und Sean einander erkannten, ob in ihren defekten Gehirnen etwas passierte, das ein vages Gefühl der Vertrautheit auslöste, oder ob sie Fremde füreinander waren. Der Himmel an jenem letzten Tag im April des Jahres 1994 war tiefblau, weiße Wolken trieben darin, bewegt von einem kalten, unregelmäßigen Wind. Mary O’Sea führte die braune Stute, auf der Kieran saß, am Zügel über die Wiese, als Aislins VW-Bus vor dem Cottage hielt. Mary war Aislins beste Freundin und die Mutter von Rosie, die vor langer Zeit im Meer ertrunken war. Marys Mann hatte nach dem Tod der Tochter angefangen zu trinken und war irgendwann nach England gegangen, von wo er Geld schickte und nicht mehr zurückkehrte. Als Aislin Sägewerk und Haus verkaufte und mit den Kindern nach Sligo zog, besuchte Mary die drei regelmäßig, blieb immer öfter über Nacht und schließlich ganz. Sie kümmerte sich um Kieran, wenn Aislin ihren Mann in Dublin oder Conor in Four Towers besuchte, sie zog Gemüse in einem Garten hinter dem Haus und arbeitete an drei Nachmittagen als Verkäuferin in einem Lebensmittelladen in Sligo. Die Zeiten, in denen sie ihren Mann vermisste, waren schon lange vorbei, und auch wenn die Erinnerung an Rosie nicht verblasste, so schmerzte sie nicht mehr wie früher. Ihr Leben war jetzt hier, mit Aislin, Kieran und der zehnjährigen Fiona, die sie, ohne Rosies Platz im Herzen herzugeben, liebte wie das eigene Kind.

Aislin stand neben dem VW-Bus und wartete, bis Sean ausgestiegen war. Der einst so kräftige Mann war schmaler geworden und gleichzeitig langsamer, zögernder. Seine Bewegungen hatten nichts Bedrohliches mehr, wirkten auf eine beruhigende Art träge, beinahe sanft. Alles, was er sah, betrachtete er lange, als versetzte ihn seine Umgebung unablässig in Erstaunen. Er trug mittlerweile eine Brille, deren rechtes Glas beschichtet war und das hängende Lid verbarg. Sein Haar war stellenweise grau geworden, aber Aislin hatte dafür gesorgt, dass es nicht mehr alle zwei Wochen geschnitten wurde. Die Autotür, die er vor Jahren achtlos mit dem Fuß zugestoßen hätte, schloss er jetzt vorsichtig und auf rührende Art umständlich, sah sich dann neugierig um und machte dabei winzige Schritte auf dem Kies.