«Komm«, sagte Aislin und ergriff Seans rechte Hand, die kraftlos und immer etwas kühler als die linke war.»Ich möchte, dass du jemanden kennenlernst. «Bedächtig, als hätten sie alle Zeit der Welt, gingen die beiden zu der Wiese. Mary war mit dem Pferd an den Zaun gekommen und tätschelte den Hals des Tieres. All You Can Eat war eine fünfjährige Fuchsstute, die ihren Namen ihrem enormen Appetit verdankte und deren früherer Besitzer sie loswerden wollte, bevor sie ihm die Haare vom Kopf fraß. Sie hatte wunderschöne Augen mit langen Wimpern, und jeden, der sie fütterte, liebte sie innig.
«Sean, das ist meine Freundin Mary«, sagte Aislin.
Mary lächelte und streckte Sean die Hand entgegen.»Freut mich sehr, Sean.«
«Uun Ag, Ary«, sagte Sean. Seine Stimme war leise und stockend wie die eines jungen Mannes beim ersten Rendezvous, aber er ergriff Marys Hand ohne zu zögern und schüttelte sie lächelnd eine Weile.
«Und das ist Kieran.«
Der inzwischen einundzwanzigjährige Kieran saß ein wenig nach vorne gekrümmt im Sattel, hielt die Zügel fest in beiden Händen und schaukelte mit dem Kopf vor und zurück. Er war ein hübscher Bursche geworden, mit wachen Augen und vollen, geschwungenen Lippen, die sich ständig bewegten, auch im Schlaf. Die Haare, die an Stirn und Nacken unter dem Helmrand heraushingen, schimmerten schwarz. Trotz der vielen Stunden im Freien war seine Haut hell, und hätte man einen Makel an ihm benennen müssen, wären es die von einer leichten Akne und der täglichen Rasur geröteten Stellen an Kinn und Hals gewesen.
Jedem, der Sean Lynch als jungen Mann gekannt hatte, wäre die verblüffende Ähnlichkeit Kierans mit seinem Vater aufgefallen. Aislin musste für einen Moment den Blick von den beiden wenden, um nicht zu weinen. Sie sah zum Haus hinüber, wo Fiona hinter dem Küchenfenster saß und die Szene beobachtete.
«Uun Ag, Kian«, sagte Sean und hielt dem Jungen die Hand hin.
Kieran sah seine Mutter an und ergriff, als Aislin nickte, die Hand seines Vaters. Sean lächelte. Ein Projektil steckte in dem Teil seines Gehirns, das für die Aufbewahrung von Erinnerung zuständig war. Er erkannte die Person nicht, deren Hand er eine Weile freundlich schüttelte. Es war noch nicht lange her, da hatte er in der gleichen Werkstatt gearbeitet wie vor Jahren sein Sohn. Beide hatten Bilderrahmen geschliffen, stumm und eingetaucht in eine Welt, die es nicht mehr gab und die sie in gleißend hellen Gedanken endlos durchstreiften, einsam und verloren und für immer in ihr aufgehoben. Beide wussten nicht oder hatten vergessen, wer sie waren, aber beide lächelten in der unerschütterlichen Gewissheit, in diesem Augenblick glücklich zu sein.
Robert Moriarty hatte schon als Junge in einem leerstehenden Fabrikgebäude außerhalb Dundalks Tauben gezüchtet. Fünf Jahre lang verbarg er seine Leidenschaft vor den Eltern. Sein Vater, ein Busfahrer und Laienprediger, bezeichnete die Tiere als gefiederte Ratten, und seine Mutter, die in einem Friseursalon arbeitete, hätte sich Sorgen wegen der Baufälligkeit des Fabrikgebäudes gemacht. Während seiner Zeit an der Uni, wo er Psychologie und Volkswirtschaft studierte, gab er seine geheime Liebhaberei auf. Er reiste nach England und Frankreich, kehrte nach Dublin zurück und studierte drei Semester Englische Literatur, folgte einer polnischen Sängerin nach Krakau und floh nur Wochen später, eingeschüchtert von todernsten Hochzeitsvorbereitungen, nach Wien.
Vom Geiste Freuds beseelt, fuhr er schließlich heim nach Dundalk, arbeitete auf dem Sozialamt, wurde befördert und war irgendwann Leiter des Jugendamtes. Als er eines Abends eine verletzte Taube auf der Straße fand, nachdem er wenige Stunden zuvor einen vom Vater regelmäßig verprügelten Jungen in die Obhut seines Amtes überführt hatte, war ihm die Idee mit dem therapeutischen Taubenschlag gekommen.
Auf einem ungenutzten Flecken Erde im Hinterhof des Sozialamtes baute er in seiner Freizeit aus Brettern und Latten, alten Türen und Fenstern eine kleine Hütte auf Stelzen. Von einem Freund aus früheren Tagen bekam er zwei Taubenpärchen und steckte sie in ihr neues Zuhause. Um die Vögel beobachten zu können, ohne sie zu stören, errichtete er neben der Hütte ein Podest, auf das man über eine Treppe gelangte. Meistens nahm er ein einzelnes Kind mit, um ihm die Tiere zu zeigen. Er erzählte ihm, dass ihr zoologischer Name Columbidae war, dass es Felsentauben und Ringeltauben gab, Hohltauben und Turteltauben und Türkentauben, dass Männchen und Weibchen ein Leben lang zusammenblieben, dass ihre Jungen Nesthocker genannt wurden und dass einige Brieftauben tausend Kilometer weit nach Hause flogen. Das Kind durfte die Tauben füttern, und wenn es sich vor den Tieren nicht fürchtete oder ekelte, durfte es ein besonders zahmes Exemplar auch streicheln.
Moriartys Modell, zu Beginn von vielen Kollegen noch belächelt, galt nach ein paar Jahren als richtungweisend, wenn es um den Einsatz von Tieren bei der seelischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen ging. Seine Methode machte Schule, und ihr Erfinder wurde zum neuen Direktor der Besserungsanstalt außerhalb Sligos ernannt.
Die Gesellschaft, so erklärte Moriarty den Neuankömmlingen in Four Towers, sei ein Taubenvolk. Vorneherum werde gegurrt und hintenherum gehackt, es herrsche ein ewiges Gezanke um Futter und die schönsten Weibchen, und die ganz Fiesen schissen ihresgleichen auf den Kopf. An dieser Stelle grinsten die meisten Jungs, und Moriarty lächelte zufrieden, bevor er fortfuhr. In einer Gesellschaft gehe es um gegenseitige Achtung, um Rücksichtnahme den Schwächeren gegenüber, um Solidarität. Er erläuterte den Jungen die Bedeutung dieses Fremdwortes, machte einen leidlich eleganten Schwenker zum Thema Weltfrieden und zeigte ihnen dazu Taubenbilder von Picasso und Matisse. Den Abschluss seines Vortrags bildete ein kurzer Exkurs in die faszinierende Welt der Brieftauben, deren Orientierungssinn und imposanten Flugkünste.
Im ersten Jahr hatte er den Fehler begangen, von Falken zu erzählen. Sämtliche wissenschaftlichen Fakten zugunsten seiner Weltbildmetapher ignorierend, nannte er sie die Bösewichte im Vogelreich, die im friedfertigen Taubenvolk Unruhe stifteten und nur an Streit und Kampf interessiert seien. Diesen Teil hatte er jedoch schon bald wieder weggelassen, nachdem sich viele der Jungen in der abschließenden Befragung lieber mit imposanten Falken als mit pummeligen Tauben identifizierten.
Jeder Junge musste einmal mit hinauf in den Taubenschlag und die Tiere eine Stunde lang beobachten. Moriarty forderte sie auf, zu beschreiben, was sie sahen. Meistens murmelten die Jungen etwas von verschlafen wirkenden Vögeln, die wie Hühner in ihren Nischen hockten, von den roten Augen, die manche hatten, vom seltsamen Gang der Tiere, den albern zu nennen sie sich nicht trauten, von den Lauten, die aus ihren aufgeplusterten Körpern drangen, von ihren grauen und weißen Federn, von den Ringen an ihren rötlichen, gerippten Füßchen. Einige machten Bemerkungen über den vielen Mist, der überall lag, einige ganz Mutige über die Männchen, die wie zu klein geratene Gockel um die Weibchen balzten.
Moriarty hörte ihnen schweigend zu, oft amüsiert über die Jungen, von denen manche verschüchtert um Worte rangen und andere enthemmt, beinahe panisch drauflosquasselten. Erst am Ende der Stunde zählte er die Begriffe auf, die ihm beim Betrachten der Tauben einfielen. Sanftmut. Wachsamkeit. Innere Ruhe. Dann sahen ihn die Jungen an und nickten pflichtbewusst, und in ihren Köpfen stiegen für Sekunden die Wörter auf, drehten eine Ehrenrunde über Feldern der Ahnungslosigkeit und sanken zurück ins Nichts. Für die meisten Zöglinge waren Tauben einfach irgendwelche Vögel, nicht der Rede wert, im besten Fall bewegliche Ziele für Schießübungen mit der Steinschleuder oder dem Kleinkalibergewehr, für manche Hühnchenersatz in mageren Zeiten. Andere hielten sie, die Ansicht ihrer Eltern übernehmend, für fliegendes Ungeziefer, ekliges Federvieh, auf dem es von Parasiten wimmelte.