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Einer der Jungen, Noel Moger, ein ebenso schlauer wie unberechenbarer Bursche aus Tuam, der wegen Einbruchdiebstahls und leichter Körperverletzung in Four Towers war, hatte irgendwo gelesen, Taubenkot zerstöre Gebäude und Denkmäler, weshalb in vielen Städten der Welt versucht werde, die Zahl der geflügelten Pest zu reduzieren. Gift und Geburtenkontrolle seien taugliche Mittel, hatte er heimlich verlauten lassen, aber womit er seine Zuhörer faszinierte, war die Nachricht, an einigen Orten würden abgerichtete Greifvögel gegen die Tauben eingesetzt. Viele der Jungen kamen aus ländlichen Gegenden, wo die Jagd zum Alltag gehört, und die Vorstellung, einen dressierten Falken, Bussard oder Habicht zu besitzen, der Moriartys Viecher vom Himmel holte, ließ sie verträumt lächeln. Natürlich verbargen sie ihre Verachtung für die Tauben vor dem Direktor, aber wann immer ein Raubvogel durch das begrenzte Stück Himmel flog, das ihnen durch ein Fenster oder zwischen den Mauern zu sehen erlaubt war, blitzten für Sekunden ihre Augen auf.

Das Ausmisten war freiwillige Arbeit. Moriarty wollte nicht, dass die Jungen die Tauben hassten, nur weil sie deren Exkremente entfernen mussten. Die meisten taten es ein paar Mal, dann hörten sie auf, sich zu melden, weil es ihnen keine Vergünstigungen einbrachte. Einige hatten Interesse an der Taubenzucht vorgetäuscht, um beim Direktor einen Stein im Brett zu haben, aber so funktionierte Moriartys Theorie nicht. Die Vögel sollten einfach da sein. Der Sinn ihrer Anwesenheit bestand einzig und allein darin, den Jungen zu zeigen, dass Lebewesen durchaus miteinander existieren konnten, ohne sich zu betrügen und zu bestehlen, zu verletzen oder gar umzubringen. Der Kot der Vögel war ein Abfallprodukt dieses Anschauungsunterrichts, und er musste hin und wieder entfernt werden. Aber diese Arbeit wollte Moriarty nicht belohnen, jedenfalls nicht mit direkten Vorteilen. Im Verlauf der Jahre kannte er die paar Burschen, die bei der Stange blieben, und wenn ihre Zeit kam, um eine vorzeitige Entlassung zu beantragen, vermerkte er ihre Stunden im Taubenschlag als freiwillige Einsätze, nicht mehr und nicht weniger. Meldete sich kein Freiwilliger, stieg Moriarty mit Schaufel und Eimer in den Turm hoch und erledigte die Arbeit selber. Er war überzeugt, dass er damit den Jungen ein gutes Beispiel gab.

Conor trug sich jeden Montag in die Liste ein. Die Arbeit im Taubenschlag betrachtete er als eine Möglichkeit, dem Wochentrott zu entfliehen. Mit der Tatsache, eingesperrt zu sein, hatte er sich längst abgefunden, aber die Eintönigkeit der Tagesabläufe machte ihm zu schaffen. Die drei Stunden am Samstagmorgen, wenn seine Mitinsassen die Wände und Böden der Waschräume und der Küche schrubbten, Feuerholz hackten, im Hof mit Stöcken auf ihre Matratzen eindroschen oder auf Knien die Böden der Schlafsäle und Flure bohnerten, schabte er mit einer Blechschaufel Taubenmist vom Boden des Wachturms und genoss die Aussicht.

Bei den ersten Malen waren die Tauben noch weggeflogen. Er hatte ihnen nachgeschaut, wie sie als langgezogene Linie in Richtung Meer verschwanden und dann, weit weg und zum flirrenden Wölkchen geschrumpft, ins Landesinnere abdrehten und in einem großen Bogen zurückkamen, um sich in Gruppen auf den Dächern der anderen Türme niederzulassen. Dort saßen sie dann und warteten, bis er fertig war. Doch Conor ließ sich Zeit. Er hatte drei Stunden für sich alleine, und die schöpfte er aus. Weil Moriarty es so wollte, trug er bei der Arbeit einen grauen Overall, eine Atemmaske aus Zellstoff, eine Schutzbrille und Handschuhe, was sein Gefühl, weit weg und isoliert zu sein, noch verstärkte.

Wenn er mit der Arbeit fertig war und sich an der Landschaft sattgesehen hatte, legte er sich meistens noch eine Weile auf den Rücken, schloss die Augen und hörte den Geräuschen der Tauben zu. An kühlen, verregneten Tagen hockten die Vögel in ihren Nischen und öffneten nicht einmal mehr die Augen, wenn er sie aufhob, um unter ihnen sauberzumachen. Lag er da, eingehüllt in das Gurren und Trippeln und das leise Sirren unter den Flügeln ankommender und wegfliegender Tauben, dann dachte er an seine Mutter und an Fiona und Kieran. Und daran, dass sein Vater, oder das, was von ihm übrig war, wieder bei ihnen lebte. Er rechnete aus, wie viele Tage es bis zum nächsten Besuchstermin noch waren, und fragte sich, ob seine Mutter seinen Wunsch respektieren und seinen Vater nie mitbringen würde. Sie hatte ihm zwar erzählt, dass er niemanden wiedererkenne, dass er sanft wie ein Lamm sei und oft ganze Tage damit verbringe, Ameisen auf einer Fensterbank zu beobachten. Aber so konnte Conor sich seinen Vater nicht vorstellen. Er sah das Bild vor sich, das Mary mit ihrer Kamera gemacht hatte und das Sean Lynch in einem zu großen schwarzen Anzug neben dem Pferd stehend zeigte, aber er traute dem schüchtern wirkenden Lächeln des Mannes nicht. Er malte sich aus, wie er seinem Vater in die Augen sehen würde. Wie in der Hälfte einer Sekunde das kalte Licht der Erinnerung in diesen Augen blitzen und dieses falsche Lächeln verschwinden würde. Er sah, fünfzehn Meter über seinem irdischen Käfig schwebend und von den Lauten friedlicher Vögel getragen, seinen Vater vor sich und keinen anderen, guten Menschen.

Wilbur hatte sich rasch an sein neues Leben gewöhnt. Nach zwei Wochen schierer Verzweiflung hatte er beschlossen, nichts mehr vermissen zu wollen, keine Menschen, keine Empfindungen, keine Dinge, und von da an ging es ihm besser. Er sorgte dafür, dass er beschäftigt war und keine Zeit zum Grübeln hatte. Von halb acht bis zwölf und von halb zwei bis fünf arbeitete er in der Werkstatt und stellte mehr Rattenfallen her als sein Tagessoll verlangte, und nach dem Abendessen und an den Samstagnachmittagen schloss er sich der Gruppe an, die in einem der Kellerräume einen Kraftraum einrichten wollte.

Direktor Moriarty, der sich als Pionier in der Betreuung und Reintegration straffällig gewordener Kinder und Jugendlicher in Irland sah, hatte schon vor Jahren erwogen, in Four Towers ein Sportprogramm einzuführen, musste seine Pläne jedoch immer wieder wegen fehlender finanzieller Mittel auf Eis legen. Die einzigen körperlichen Ertüchtigungen, die er für seine Schützlinge bisher anordnete, waren zwanzig Minuten Morgengymnastik im Arbeitssaal und an regenfreien Samstagen eine Stunde Freiübungen und Ballspiele auf dem Hof.

Jetzt war etwas Geld vom Staat da, das in die Bereiche Ausbildung, Kultur und Leibesertüchtigung investiert werden musste, und endlich konnte Moriarty seine Vorhaben verwirklichen. Die Traktorenwerkstatt wurde so modernisiert, dass die Burschen, die dort arbeiteten, eine richtige Ausbildung erhielten. In den nächsten Jahren sollten auch die übrigen Bereiche angepasst werden. Die Herstellung von Nagetierfallen für den lokalen Markt konnte man als Notlösung, vielleicht noch als Einarbeitungsprogramm für Neuankömmlinge verstehen, für zukunftstauglich hielt Moriarty diese Art schlecht bezahlter Beschäftigungstherapie jedoch nicht.

Die Bibliothek, die sich vorher in einem dürftig beheizten Zimmer im Erdgeschoss befunden hatte, wurde in die erste Etage neben den Speisesaal verlegt, einen Raum, in den sich die Jungen bisher zurückziehen konnten, um Briefe zu schreiben, zu lesen, Schach zu spielen oder sonst etwas zu tun, das keinen Lärm machte. Moriarty nannte ihn den Raum der Stille, für die Jungen war es die Kammer des fünften Turms oder einfach der Wichsraum. Um den Burschen beim Schreiben ihrer Briefe etwas Privatsphäre zu geben, hatte Moriarty sie in der Werkstatt Paravents aus Holz und Stoff bauen lassen, die jeden der dreißig Tische vor neugierigen Blicken abschirmte. Dass sich die von ihren Hormonen malträtierten Schützlinge hinter diesen Wänden Erleichterung verschafften, ahnte Moriarty nicht, und als er im Zuge der Umbauten die Entfernung der Paravents anordnete, löste das einen Proteststurm aus. Gleichzeitig verwundert und erfreut darüber, wie wichtig seinen Schützlingen ihre Momente der Stille und Einkehr waren, bewahrte er die Faltwände vor der Vernichtung und die Jungen davor, ihre aus Sexheften und Unterwäschekatalogen ausgeschnittenen Bildchen wieder in den Toilettenräumen ausbreiten zu müssen, deren kalte Fliesen jedes Schnaufen und jedes Wimmern schallend zurückwarfen.