«Sie wußten, daß ich die Fotos in Aynsford aufgenommen hatte, konnten aber nicht ahnen, daß sie in London entwickelt worden sind.«
Charles lächelte.
«Kommst du auf ein paar Tage nach Aynsford, wenn man dich hier entläßt?«
«Das muß ich doch schon mal gehört haben«, meinte ich,»vielen Dank, nein.«»Ich setze dir keinen Kraye mehr vor«, versprach er,»diesmal nur zur Erholung.«
«Ich möchte schon, aber ich habe keine Zeit. Die Firma muß über die Runden gebracht werden. Und ich habe mit meinem Chef das getan, was du mit mir in Aynsford angestellt hast.«
«Und das wäre?«
«Ich habe ihm wieder Mut gegeben.«
Charles lächelte amüsiert.
«Weißt du, wie alt er ist?«fragte ich.
«So um die Sechzig, warum?«Ich war überrascht.»Ich hatte keine Ahnung, daß er schon so alt ist, bis er es mir gestern erzählte.«
Charles starrte seine Zigarre an.
«Du hast immer gedacht, ich hätte ihn gebeten, dir eine Stellung zu verschaffen, nicht wahr?«meinte er.
Ich sah ihn verlegen an.
«So war es ganz und gar nicht. Ich kannte ihn nicht persönlich, nur vom Namen her. Er sprach mich eines Tages im Klub an und fragte mich, ob ich der Meinung wäre, daß du für ihn arbeiten könntest. Ich sagte ja, da wäre schon etwas zu machen, wenn er sich Zeit ließe.«
«Das glaube ich nicht.«
Er lächelte.»Ich erzählte ihm, daß du gut Schach spielest. Außerdem auch, daß du nur durch Zufall Jockey geworden bist, als du klein warst und deine Mutter gestorben war, und daß du auch in jedem anderen Beruf Erfolg haben würdest. Er sagte, er habe dich bei den Rennen beobachtet und hätte die Meinung, du wärst genau der Richtige. Dabei erzählte er mir sein Alter. Das war alles. Aber wir begriffen beide, was er meinte.«
«Ich hatte schon alles weggeworfen«, sagte ich,»ohne dich.«
«Ah ja«, sagte er.»Du hast mir für vieles zu danken, für sehr vieles.«
Bevor er ging, bat ich ihn, sich die Fotos anzusehen. Er studierte sie der Reihe nach, und gab sie kopfschüttelnd zurück.
Chefinspektor Cornish rief an, um mir mitzuteilen, daß Fred keine Chancen mehr hatte.
«Die Kugeln stimmen überein. Er zog dieselbe Waffe, als er überrascht wurde, aber zum Glück zu spät.«
«Schön dumm von ihm, den Revolver nicht wegzuwerfen.«
«Allerdings. Aber so etwas kommt oft vor, sonst würden wir die Kerle nie fassen. Er hat Kraye von dem Mord nichts erzählt, so daß wir ihn leider nicht als Mittäter anklagen können — sehr schade. Kraye scheint einen Tobsuchtsanfall bekommen zu haben, als er davon erfuhr. Offenbar bedauert er am meisten, daß er nichts von dem Bauchschuß wußte, als er Sie in seiner Gewalt hatte.«
«Zum Glück!«sagte ich.
Cornish lachte.»Fred sollte Brintons Brief selbst bei euch abholen, aber er wollte zu einem wichtigen Fußballspiel und schickte statt dessen Andrews. Den Revolver lieh er ihm nur zum Spaß, er wollte nicht, daß Andrews damit herumknallte. Und dann kam Andrews völlig entnervt daher und sagte, er habe Sie erschossen. Fred ging mit ihm in den Wald. Dabei soll sich der Schuß angeblich durch Zufall gelöst haben. Ich bitte Sie, was werden die Geschworenen sagen? Fred behauptete, er habe Kraye nichts erzählt, weil er ihn fürchtete.«
«Was? Fred fürchtet sich?«
«Kraye scheint keinen guten Eindruck auf ihn gemacht zu haben.«
«Das wundert mich nicht«, sagte ich.
Am Mittwoch vormittag erschienen Lord Hagbourne und
Mr. Fotherton. Ich saß auf dem Bettrand in einem dunkelblauen Bademantel, Hausschuhe an den Füßen, meinen Arm in der Schlinge, frisch rasiert, gekämmt und gewaschen. Meine Besucher waren erleichtert, mich so zu sehen, und machten es sich in den Lehnsesseln bequem.
«Sie erholen sich also, Sid?«fragte Lord Hagbourne.
«Ja, danke.«
«Gut, gut.«
«Wie war der Renntag?«fragte ich.»Am Samstag?«
Die beiden schienen von der Frage überrascht zu sein.
«Er hat doch stattgefunden?«fragte ich besorgt.
«Ja«, sagte Fotherton.»Das Wetter war gut, und wir hatten ziemlich viele Zuschauer.«
Lord Hagbourne sagte:»Übrigens sind nicht nur Ihre Streifenbeamten mit Schlafpulver versorgt worden. Die Stallburschen hatten am anderen Tag auch furchtbare Kopfschmerzen, und der alte Mann, der sich um die Heizung zu kümmern hatte, schlief in der Kantine auf dem Boden. Oxon hatte allen ein Glas Bier spendiert.«
Ich seufzte.
«Gestern war ein Techniker da, um den Heizkessel zu überprüfen«, sagte Lord Hagbourne.»Das Ding wäre schon zu alt, um größeren Belastungen noch standzuhalten, und es hätte sicher keine drei Stunden gedauert bis zur Explosion.«
«Sehr charmant«, sagte ich.
«Ich habe mich übrigens mit den Gemeinde- und Stadträten in Verbindung gesetzt«, fuhr Lord Hagbourne fort.»Man will den Beschluß fassen, daß keine Baugenehmigung erteilt werden soll.«
«Wunderbar«, sagte ich erfreut.
Fotherton räusperte sich, sah Lord Hagbourne zögernd an und richtete seinen Blick auf mich.
«Wir haben besprochen. «begann er.»Man hat beschlossen, Sie zu fragen, ob Sie — interessiert daran wären, den Posten. Ob Sie Rennplatzadministrator in Seabury werden wollen?«
«Ich?«fragte ich entgeistert.
«Für mich wird die Arbeit zuviel«, gab Fotherton zu.
«Sie haben den Rennplatz in letzter Sekunde gerettet«, erklärte Lord Hagbourne.»Wir wissen alle, daß es ungewöhnlich ist, einem Jockey so kurz nach dem Rücktritt diesen Posten anzubieten, aber das Direktorium von Seabury hat sich einstimmig dafür entschieden.«
Das war eine einmalige Ehrung. Ich bedankte mich, zögerte und erkundigte mich, ob ich es mir überlegen dürfte.
«Natürlich«, sagte Lord Hagbourne,»aber sagen Sie ja!«
Ich bat sie, sich die Fotos anzusehen, und das taten sie auch. Sie betrachteten jede Aufnahme gründlich, konnten mir aber nicht helfen.
Am nächsten Nachmittag erschien Zanna Martin mit riesigen Chrysanthemen, eine völlig veränderte Zanna Martin, in einem eleganten dunkelgrünen Kostüm und hochhackigen Schuhen. Sie trug das Haar kürzer und in modernem Schnitt. Sogar Lippenstift und Puder hatte sie aufgelegt. Man sah die Narben deutlich, aber Miss Martin war endlich damit zurechtgekommen.
«Sie sehen großartig aus«, sagte ich.
Sie war verlegen, aber sehr erfreut.
«Ich habe eine neue Stellung. Mein Gesicht scheint gar nicht aufzufallen. Jedenfalls sagte kein Mensch etwas. Diesmal ist es ein größeres Büro, auch das Gehalt ist erheblich größer.«
«Das freut mich sehr«, sagte ich.
«Ich komme mir vor wie ein neuer Mensch«, meinte sie.
«Ich auch.«
«Ich bin froh, daß wir uns kennengelernt haben. «Sie lächelte.
«Haben Sie die Akte zurückbekommen? Mr. Barnes war bei mir.«
«Ja, danke.«
«War sie wichtig?«
«Warum?«
«Er kam mir ein bißchen merkwürdig vor. Zuerst dachte ich mir, er wollte mir etwas darüber erzählen. Er fing auch an, verstummte aber schnell wieder.«
Na warte, Chico, dachte ich.
«Eine ganz normale Akte, nichts Besonderes«, sagte ich.
Ich zeigte auch ihr die Fotos, aber sie konnte nichts damit anfangen. Sie stand auf und zog die Handschuhe an.
«Auf Wiedersehen, Mr. Halley. Und herzlichen Dank für alles. Ich werde niemals vergessen, wieviel ich Ihnen schulde.«
«Wir waren nicht beim Essen«, sagte ich.
«Nein. «Sie lächelte. Jetzt brauchte sie mich nicht mehr.
«Macht nichts, ein andermal. «Sie gab mir die Hand.»Leben Sie wohl!«
Sie verließ das Zimmer.
«Leben Sie wohl, Miss Martin«, sagte ich in den leeren Raum hinein.»Leben Sie wohl.«
Ich seufzte ironisch und schlief ein.
Am Freitag vormittag erschien mein Steuerberater, Noel Wayne, den ich gebeten hatte, mich zu besuchen.