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Kaum hatte ich die Tür zum Wohnzimmer geöffnet, erhoben sich zwei bärtige Männer.

«Herr Türmer«, sagte der eine, der lange Beine und einen kurzen krummen Oberkörper hatte,»wir wußten ja gar …«, und der andere, in dem ich den Zuckerbart-Propheten mit den großen Brillenaugen erkannte, variierte:»Wir wußten wirklich nicht … Warum arbeiten Sie nicht bei uns mit?«Stille. Der dritte Mann, Jörg, dessen Baskenmütze auf dem Tisch lag, lehnte sich zurück und nickte mir wie ein Prüfer aufmunternd zu. Die ihm gegenübersitzende zierliche Frau mit Pagenschnitt sah mich an, als wäre sie in mich verliebt. Nur Michaela las in dem vor ihr liegenden Text.

«Dafür gibt es eigentlich keinen Grund«, sagte ich, nur um etwas zu sagen.

Worauf wartete ich? Warum verschwand ich nicht endlich in meinem Zimmer?

Rudolph, der Prophet, machte einen Schritt auf mich zu, streckte beide Hände nach meiner Rechten aus und ergriff sie. Er schätze sich glücklich, so unverhofft Gelegenheit zu erhalten, mir zu danken. Das wolle er schon, seit er mich das erste Mal in der Kirche gehört habe.369 Er habe seiner Frau immer gesagt, sie solle nie vergessen, was der Herr Türmer für uns getan habe. Um Monate sei ich dem Geschehen voraus gewesen, ich hätte tatsächlich» klartext «geredet, und wenn es hier in der Stadt jemanden gebe, dem er vertraue, dann mir.

Obwohl er meine Hand festhielt, streifte mich sein Blick nur gelegentlich.

Ich solle für sie schreiben. Mit meinem Namen im Impressum müsse er sich keine Sorgen mehr um die Zeitung machen, mein Name wäre der» Garant für den Erfolg«.

«Nun hol dir endlich einen Stuhl und setz dich her!«unterbrach Michaela meinen Laudator.

Es war wie auf einer Umbesetzungsprobe — alle wissen Bescheid, nur der eine nicht, um den sich alles dreht. Doch bald sprachen sie von nichts anderem mehr als von Kostenvoranschlägen, Druckereien, Transportmöglichkeiten, Auflagen, Seitenzahlen, Ressortaufteilungen, und das nahm mir eigenartigerweise die Angst, das war etwas, wozu ich nichts sagen konnte, doch das Zuhören quälte mich nicht, es war so interessant und so langweilig, als erklärten sie mir ein Gesellschaftsspiel.

Michaela war als einzige gegen die Pläne der anderen.»Aber so funktioniert es nicht!«rief sie immer wieder.

Ich fragte schließlich, warum sie das alles erörterten und nicht weitermachten wie bisher?

«Genau«, rief Michaela und warf ihren Stift hin,»das frag ich mich auch! Genau das frage ich mich!«

Jörg lachte auf. Und dann hörte ich es zum ersten Maclass="underline" »Altenburger Wochenblatt«. Jörg ließ niemanden mehr zu Wort kommen. Setzte jemand zum Sprechen an, hob er seine Radiomoderatorenstimme und nahm den Einwand oder die Ergänzung vorweg.

«Aber es funktioniert nicht«, rief Michaela abermals, worauf er auflachte und sagte:»Aber wir machen es trotzdem!«

Danach schwiegen sie und sahen vor sich hin. Plötzlich drehte die Frau mit dem Pagenschnitt wie ein Vogel den Kopf zu mir und fragte:»Und Sie, wollen Sie nicht mitmachen? Es wäre eine Ehre für uns!«

Unsere Aufgabe sei es, fuhr sie fort, die Öffentlichkeit zu erobern, ja Öffentlichkeit überhaupt erst herzustellen, um den demokratischen Übergang zu unterstützen, zu lenken und zu überwachen, ja, auch ein wenig Kontrolle und Selbstkontrolle sei nötig.»Unabhängigkeit ist das Wichtigste! Das lassen wir uns vom Neuen Forum schriftlich geben. «Daß sich ein solcher Versuch in einer Kreisstadt anders ausnehme als in Berlin oder Leipzig, darüber müßten wir ja nicht reden.»Das Rad der Geschichte«, unterbrach sie Rudolph, der Prophet,»darf sich nicht wieder zurückdrehen. «Dann sagte Georg:»Wir, also das Neue Forum, das die Finanzierung übernehmen wird, planen eine Zeitung, die ab Februar wöchentlich erscheinen soll. In sieben Wochen werden wir das erste Exemplar in Händen halten!«

Das gefiel mir.

«Und was denkst du?«fragte ich Michaela. Sie hatte die Zigarette ausgedrückt und bewegte die Wangen, als spülte sie mit Mundwasser.

Aus einem Gefühl der Verantwortung habe sie beim Neuen Forum mitgemacht, aus Verantwortung habe sie mitgeholfen, den» klartext «zu gründen, aus Verantwortung habe sie die Position einer Herausgeberin übernommen. Zeitung, Journalismus, politische Aktivitäten — das sei etwas für Krisenzeiten, und nur in Krisenzeiten habe sie dafür Interesse. Das Eigentliche geschehe nun mal in der Literatur, der Kunst, auf dem Theater! Wo, wenn nicht im Theater kämen die Probleme einer Gesellschaft gebündelt und gestaltet zur Verhandlung? Sie gebrauchte dann Formulierungen wie» die Niederungen der Lokalpolitik «und» tägliches Klein-Klein«.

Anfangs hörten ihr alle zu, aber je länger sie über Kunst, Bühne und das» eigentliche Leben «schwadronierte, desto unruhiger wurde es. Nur die Pagenkopf-Frau war noch ganz bei der Sache. Michaela beschloß ihren Sermon mit dem Satz:»Allein in der Kunst widerfährt unserem Leben Gerechtigkeit, allein dort gibt es eine angemessene Sprache dafür!«

Danach versammelten sich wieder alle Blicke auf mir.»Das wäre ein großes Opfer«, sagte die Frau mit dem Pagenkopf,»wirklich ein Opfer, das Sie da bringen würden.«

«Marion«, sagte Jörg etwas ungehalten,»wir springen doch alle!«370

«Das ist absurd!«rief Michaela. Ich solle mir darüber klarwerden, daß ich dann im Theater kündigen müsse, daß das keine Tätigkeit sei, die man nebenbei mache.

Ich versprach, es mir zu überlegen.

Michaela fuhr auf.»Das ist nicht dein Ernst?!«

Ich wiederholte, daß ich es mir überlegen wolle.

Michaela verschwand in ihrem Zimmer.

Für Robert erwies sich diese Wendung als Glücksfall. Er klagte nicht einmal über den Zigarettenrauch, denn pünktlich zum Beginn der Serie hatten alle das Wohnzimmer verlassen. Ich verabschiedete Michaelas Mediengruppe an der Tür.

Als Robert schon im Bett lag, stieß Michaela mit dem Ellbogen meine Tür auf, drehte sich herum, die Schublade ihres Schreibtischs wie einen Bauchladen vor sich.»Da kannst du schon mal üben«, sagte sie, kippte mir den Inhalt ins Zimmer und war wieder draußen.

Vor mir lag ein Haufen beschriebenen Papiers,»klartext«-Unterlagen, wie sich schnell herausstellte, aber auch Haarspangen, Heftpflaster und ein Nagelklipp waren darunter.

Ich machte mich sofort ans Sortieren: Druckkosten, die Einnahmen der Verkäufer, die Einnahmen durch den Postzeitungsvertrieb, die Abrechnungen und Außenstände, die verwendeten Texte, die ungedruckten Manuskripte und der Schriftwechsel.

Im Stehen betrachtete ich schließlich meine kleine Weltordnung — und dann: Ich nahm meine Manuskriptmappen aus dem Schrank, leerte die erste, radierte die Überschrift» Kasernenherz/letzte Fassung «weg und schrieb statt dessen» Druckkosten «darauf. Auf die hellblaue Mappe, auf der» Titus Holm «gestanden hatte, schrieb ich jetzt» Abrechnung Verkäufer«. Und so immer weiter, bis nur noch eine Mappe ohne Beschriftung übrig war. Ihr entnahm ich meine letzten Prosaversuche und legte sie zu den anderen auf den Schreibtisch. Sie krönten nun den Stapel meiner gesammelten Werke. Auf die Mappe schrieb ich:»Verworfene Manuskripte «und erkannte im selben Moment, wie treffend dieser Titel auch zuvor schon gewesen wäre. Hätten wir einen Ofen gehabt, an diesem Abend wären meine» Gesammelten Werke «den Flammen übergeben worden.

Da ich sie aber mit der Schrift nach unten gelegt hatte, sahen sie aus wie ein Stapel weißes Papier. Die Blätter waren auf einer Seite noch zu etwas nütze, eine Tatsache, die mich in ihrer Gleichnishaftigkeit erschreckte und zugleich beglückte. Die andere Hälfte sollte nicht vergeudet werden!371

Liebe Nicoletta, noch bin ich nicht am Schluß, aber für heute soll es genug sein.

Es grüßt, so herzlich wie entmutigt,