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Nun war es an mir, ihr mit gedämpfter Stimme Michaelas Pensum der letzten Wochen vorzutragen.

«Du mußt nicht flüstern«, sagte Michaela,»aber mit geschlossenen Augen kann ich mir die kleine Annemarie Trockel, die am Stanniolpapier riecht, besser vorstellen.«

Tante Trockel vollführte einen kleinen Hüpfer auf der Sesselkante und belohnte Michaela für ihre Ausrede mit einem Lob für den» klartext«. Das gab ihr zudem Gelegenheit, von ihrer Schwägerin zu berichten, die den» klartext «deshalb nicht kaufe, weil da Thüringen draufstehe. Altenburg, habe diese gesagt, sei Sachsen und gehöre zu Sachsen, das finde sie, Tante Trockel, natürlich auch, aber das lasse sich ja ändern, also der Zeitungskopf.

Michaela fragte schließlich, was sie von den Artikeln halte.»Sehr gut«, rief Tante Trockel,»wirklich sehr gut, kritisch eben, sehr kritisch. «Sie nippte an ihrem Wasserglas und behielt es in der Hand.

Die Kritik finde sie gut? Ja, was denn sonst, das sei doch jetzt überall so. Nun komme die Wahrheit ans Licht.

Beide Frauen, so schien mir, warteten darauf, daß der Rehrücken endlich von meinem Teller verschwand.

«Nein!«schrie Michaela auf, als Tante Trockel zwei Teller mit jeweils einem Achtel Schwarzwälder Kirschtorte hereintrug. Tante Trockel knüpfte daran die Geschichte von der bestellten Schlagsahne, die man ihr trotz mehrfacher Zusicherung nicht zurückgestellt habe, weshalb sie bis zum Kaufhallenleiter vorgedrungen sei, der schließlich zum Telephon gegriffen und am Steinweg noch zwei Flaschen für sie geortet hatte.»Zwei Flaschen!«rief Michaela. Zwei Flaschen Schlagsahne seien eine Zumutung, das dürfe sie nicht tun, sich und uns so zu mästen. Michaela war selbst über ihren Ausbruch erschrocken, als Tante Trockel die Teller abstellte und auf dem Absatz kehrtmachte. Auf dem höchsten Sahnegipfel eines jeden Stückes thronte eine Maraschinokirsche, um die herum der sirupartige Likör einen Bergsee bildete. Ich sah Tante Trockel bereits mit tränenüberströmtem Gesicht, die Stirn am Küchenfenster, da erschien sie mit einem noch größeren Stück Torte, das sie auf ihren Platz stellte. Plötzlich stand eine Flasche Obstler vor mir und drei Gläser.»Ach, Tante!«rief Michaela. Ich schenkte uns ein, wir stießen an.

Nach dem ersten Gabelstich löste sich aus dem Maraschino-Bergsee ein Rinnsal, das sich purpurfarben durchs makellose Weiß schlängelte. Wir aßen andächtig schweigend.

Dann tat ich etwas, was ich bei Tante Trockel nie versäumte, ich ging aufs Klo: spiegelnde, von keinem Tropfen verunzierte Armaturen, ein Klobecken, in dem der Abfluß so weiß war wie der obere Rand, eine Batterie Kämme, in denen nie ein Haar zurückblieb. Mit der Neugier eines Kindes öffnete ich jedesmal ihren Spiegelschrank, in dem es dezent nach Schlangengift und Franzbranntwein roch. Bei ihr wäre ich nie auf die Idee gekommen, im Stehen zu pinkeln.

Plötzlich erinnerte ich mich an eine seltsame Begebenheit in meiner Kindheit. Fast im selben Moment donnerte Tante Trockel gegen die Tür und rief geradezu flehentlich meinen Namen. Mit schreckensgeweiteten Augen riß sie zwei Schlüpfer von der Leine, preßte sie an sich und flüchtete mit ihrer Beute.

Als ich zurückkehrte, saß Tante Trockel zurückgelehnt im Sessel, die Hände neben sich, und betrachtete ihren Bauch. Michaela hielt bereits die Handtasche auf dem Schoß.»Hab ich euch schon mal das wichtigste Erlebnis meines Lebens erzählt«, fragte ich, ignorierte Michaelas Reaktion und begann einfach zu erzählen, woran ich mich gerade erinnert hatte.

Ich war zehn oder elf Jahre alt, als mich ein Junge vom Nachbarhof überredete, mit ihm bei seiner Großmutter zu übernachten. Bei ihr dürften wir uns die Schlagerparade ansehen und danach noch einen Film. Außerdem bekämen wir dort so viele Geleebananen, wie wir wollten. Obwohl es für mich nichts Schlimmeres gab, als ohne meine Mutter und Vera bei Fremden zu übernachten, stimmte ich zu, aus Feigheit und Mangel an Argumenten. Nachdem Schlagerparade und Film vorüber waren, die Geleebananen gegessen und ich im Dunkeln in dem fremden Bett lag, umgeben von fremden Dingen und fremden Gerüchen, begann ich bitterlich in mein Kissen zu weinen. Ja ich schluchzte vor Heimweh und Sehnsucht und weil ich es immer in solchen Situationen tat. Nach einer Weile stellte ich verwundert fest: Mein Weinen hatte aufgehört. Sofort wollte ich weiterheulen, aber es ging nicht.

«Wißt ihr, was passiert war?«fragte ich Michaela und Tante Trockel. Beide sahen mich an, als spräche ich Chinesisch.

«Also, was war passiert?«fragte Michaela gelangweilt.

«Ich wußte nicht mehr, warum ich geweint hatte«, rief ich.»Ich verstand selbst nicht, was denn so schlimm an meiner Situation sein sollte!«

«Das ist dir jetzt eben eingefallen?«fragte Tante Trockel.

«Ja«, sagte ich,»das ist mir auf dem Klo eingefallen.«

«Na gut«, sagte Michaela, nickte Tante Trockel zu und wollte sich erheben. Da bat ich um ein zweites Stück Schwarzwälder Kirsch. Tante Trockel eilte in die Küche, Michaela ließ sich zurückfallen. Den Kopf auf der Sofalehne, sah sie zur Decke. Ich füllte unsere Gläser nach. Tante Trockel kam kichernd aus der Küche und verwechselte vor Aufregung ihren und meinen Teller, was ich an der roten Spur erkannte, die die Maraschinokirsche an meinem Tellerrand hinterlassen hatte. Tante Trockel hielt mit. Wir stießen an. Ich würde Tante Trockel zugrunde richten, empörte sich Michaela.»Wieso ich?«fragte ich.»Wieso er?«echote Tante Trockel und kicherte.»Das ist tödlich!«rief Michaela und zeigte auf Tante Trockels Teller.

«Soviel ich weiß«, sagte ich,»haben Schwangere da nichts zu befürchten. «Michaela erstarrte. Tante Trockel warf sich zurück und begann aus vollem Hals zu lachen, so daß ein Sprühregen an Sahne und Krümeln vor ihr niederging.

«Ihr seid verrückt«, sagte Michaela, nahm ihre Handtasche und stand auf.

Ich hatte aber keine Lust zu gehen! Jedenfalls gab es, so fand ich, keinesfalls mehr Gründe aufzubrechen als zu bleiben. Im Gegenteiclass="underline" Ich hatte Zeit! Ich mußte ja nichts mehr schreiben, nichts mehr lesen.

«Bringen wir’s hinter uns?«fragte ich, als unsere Teller wieder leer waren. Tante Trockel nickte.»Frisch schmeckt es sowieso am besten. «Sie nahm unsere Teller und tappte in die Küche.

Michaela starrte mich an.»Du hörst jetzt bitte auf damit«, rief sie.»Du hörst jetzt auf, du bringst sie um!«377

Statt der Teller trug Tante Trockel die Torte herein, über die eine durchsichtige Plasteglocke gestülpt war, mit einem roten Knopf in der Mitte als Griff.

«Trinken wir erst mal einen«, sagte ich.

«Viel Spaß«, rief Michaela, öffnete die Wohnungstür und zog sie, noch bevor einer von uns etwas sagen konnte, hinter sich zu.

Tante Trockel und ich aßen die Torte ohne Teller, direkt von dem Boden ihres Gehäuses. Wir achteten darauf, dasselbe Tempo zu halten. Beide trugen wir unsere Stücke von der Mitte her ab.

Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können: Doch als ich mich gemeinsam mit dieser dickbäuchigen, verhutzelten Alten über die Reste der Torte hermachte, fühlte ich mich auf eine unerwartete Art und Weise frei, ja befreit; befreit von allem Druck, aller Hetze, allen Ansprüchen. Eine wundersame Ruhe hielt Einzug, ein Frieden, den ich der Wirkung des Alkohols zuschrieb.

Morgens erwachte ich gegen vier aus einem traumlosen, tiefen Schlaf, der mich vollkommen erfrischt und auch den letzten Rest Müdigkeit von mir genommen hatte.

Meine» gute Laune «reizte Michaela. Sie zu quälen bereite mir offenbar Vergnügen, behauptete sie. Was ich auch tat und sagte, es bot Anlaß zu Vorwurf und Kritik.

Und dann begann es zu schneien, es schneite den ganzen Abend und die ganze Nacht und auch noch den nächsten Vormittag. Vor dem Fenster sah ich Kinder mit Schlitten. Unser Nachbar schippte Schnee.