Die erste Hälfte des Winters, der diesem ereignisreichen Sommer folgte, war von trügerischer Milde. Der November hatte viele Sonnentage, welche die kleinen weißen Blüten von Sternmiere und Hirtentäschel herauslockten, und hie und da brachen unten am Down sogar schon die samtigen schwarzen Eschenknospen hervor, und es zeigten sich auch die Büschel karminroter Narben an den Zweigknospen der Haselsträucher.
Kehaar, die Möwe, kam eines Tages zur Freude des ganzen Geheges angeflogen und brachte eine Freundin namens Lekkri mit, die mit ihrer Sprache, Silver zufolge, einen neuen Rekord auf dem Gebiet totaler Unverständlichkeit aufstellte. Kehaar wußte natürlich nichts von dem, was alles seit dem Morgen nach dem großen Ausbruch aus Efrafra vorgefallen war. Er hörte die ganze Geschichte eines windigen, wolkenverhangenen Nachmittags von Dandelion, als das Birkenlaub flog und das windzerzauste Gras raschelte, und bemerkte am Ende gegenüber dem begriffstutzigen Erzähler, daß die Katze der Nuthanger-Farm »sein viel, sehr viel gemein wie Haufen Kormoran«, eine Ansicht, die Lekkri bestätigte mit einem raspelnden Urlaut, der ein junges Kaninchen in der Nähe hoch in die Luft springen und sofort zu seinem Loch stürzen ließ.
An schönen Vormittagen sah man die zwei Möwen vom Nordhang des Downs aus, wie sie, weißglänzend im schwachen Sonnenschein, über dem gepflügten Acker, auf dem sich der Weizen des nächsten Jahres schon zartgrün ankündigte, nach Nahrung suchten.
Gegen Ende des Monats hatte Blackavar eines Nachmittags Scabious und Jung-Threar, den Sohn von Fiver, auf eine Übung mitgenommen; das Ziel war, den Garten von Ladle Hill House etwa eine Meile weiter westlich zu überfallen. Blackavar nannte das »spielerische Ausbildung«. Hazel war etwas in Sorge wegen der großen Entfernung, hatte aber die Entscheidung Bigwig, dem Chef der Owsla, überlassen (ähnlich dem Ausspruch von Edward III.: Der Knabe soll sich seine Sporen verdienen). Gegen Abend waren sie noch nicht zurück, und Hazel, der mit Bigwig den Einbruch der Novembernacht beobachtet hatte, bis es vollständig dunkel war, lief in großer Unruhe in den Wabenbau.
»Keine Sorge, Hazel-rah«, sagte Bigwig wohlgemut. »Vermutlich behält sie Blackavar zum Training die ganze Nacht draußen.«
»Aber er hat dir gesagt, das würde er nicht tun«, erwiderte Hazel. »Du weißt doch noch, wie er sagte -«
In diesem Augenblick hörte man ein Geraschel im Gang von Kehaar, und kurz darauf erschienen die drei Abenteurer, verschmutzt und müde, aber sonst anscheinend unverändert.
Da waren alle erfreut und erleichtert. Scabious allerdings, der sehr niedergeschlagen wirkte, blieb einfach dort, wo er war, auf dem Boden liegen.
»Was hat euch aufgehalten?« fragte Hazel mit einiger Schärfe.
Blackavar sagte nichts. Er hatte die Miene eines Anführers, der nicht gewillt ist, schlecht über seine Untergebenen zu sprechen.
»Es war mein Fehler, Hazel-rah«, stieß Scabious hervor. »Da ist mir auf dem Heimweg was ... Blödes passiert. Ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat. Blackavar sagt -«
»Dieser dumme Kerl, der hat zu viele Geschichten gehört«, sagte Blackavar. »Also jetzt hör mal, Scabious, du bist zu Hause und in Sicherheit. Lassen wir's dabei bewenden.«
»Worum ging's?« fragte Hazel freundlicher. Aber er wollte es wissen.
»Ach, er glaubt, er hätte das Gespenst des Generals auf dem Down gesehen«, sagte Blackavar ungeduldig. »Ich hab' ihm gesagt -«
»Ich hab's gesehen«, verkündete Scabious. »Blackavar hatte mir aufgetragen vorauszugehen und in die Büsche zu schauen, und ich war da draußen ganz allein, als ich ihn gesehen habe. Ganz schwarz um die Ohren herum ... ein riesiges, großes ... also genauso, wie sie's dir immer sagen -«
»Und ich hab' dir gesagt, es war ein Hase«, unterbrach ihn Blackavar ungehalten. »Frith noch mal! Glaubst du, ich weiß nicht, wie ein Hase aussieht?« Etwas leiser teilte er Bigwig mit: »Der Kerl stand ganz starr, bis ich ihn getreten habe. Der war tharn - erstarrt vor Angst.«
»Es war aber ein Gespenst«, sagte Scabious, aber diesmal nicht mehr so sicher. »Vielleicht ein Hasengeist.«
»Mit Hasengeistern weiß ich nicht Bescheid«, meinte Bluebell, »aber ich sage euch, vorgestern Nacht hab' ich beinahe einen Flohgeist getroffen. Muß ein Geist gewesen sein, denn ich wurde wach, gebissen wie eine Pimpinelle, und ich hab' gesucht und gesucht, aber nirgends was gefunden. Stellt euch vor, weiß und durchscheinend, dieser furchtbare Phantomfloh -«
Hazel war zu Scabious gegangen und stieß ihn sanft an der Schulter an. »Hör mal«, sagte er, »das war kein Gespenst! Klar? Ich hab' in meinem Leben noch kein Kaninchen gesehen, das ein Gespenst gesehen hat.«
»Doch. Jetzt!« sagte eine Stimme von der anderen Seite im Wabenbau. Alle fuhren überrascht herum. Es war Coltsfoot, der gesprochen hatte. Er saß allein in einer Einbuchtung zwischen zwei Buchenwurzeln. Zusammen mit seiner sonstigen Schweigsamkeit grenzte ihn diese Stellung von den anderen ab und schien ihm eine Alleinstellung voller Autorität zu geben, so daß sogar Hazel, der Jung-Scabious unbedingt zu trösten und zu beruhigen suchte, nichts mehr sagte, sondern abwartete, was er hören würde.
»Du meinst, du hättest tatsächlich ein Gespenst gesehen?« fragte Dandelion, der sofort eine Geschichte witterte. Aber Coltsfoot brauchte anscheinend keinen Anreiz mehr, nun, da er seine Sprache wiedergefunden hatte. Wie der Alte Seemann, im Gedicht von S. M. Coleridge, kannte er diejenigen, die verdammt waren, ihn anzuhören; so hatte er eine willige Zuhörerschaft, denn unter seinem dunklen Zwang verstummte alles im Wabenbau und hörte ihm zu, als er fortfuhr.
»Ich weiß nicht, ob euch allen klar ist, daß ich kein gebürtiger Efrafranier bin. Ich wurde in Nutley Copse geboren, in dem Gehege, das der General zerstört hat. Ich gehörte zur Owsla dort und hätte sicher gegen ihn gekämpft wie alle anderen, aber zufällig befand ich mich weit draußen beim silflay, als der Überfall stattfand, und die Efrafranier nahmen mich auf der Stelle gefangen. Sie brachten mich zum >Hals-Kennzeichnen<, ihr seht ja meine weiße Narbe hier. Im vergangenen Sommer wurde ich ausgesucht, um beim Überfall auf Watership Down mitzumachen. Aber das hat alles nichts mit dem zu tun, was ich eurem Anführer gerade gesagt habe.« Er verstummte.
»Na, und was hat damit zu tun?« fragte Dandelion.
»Da gab's ein kleines enges Tal hinter den Feldern, nicht weit von Nutley Copse entfernt«, fuhr Coltsfoot fort. »Es war ganz zugewachsen mit Brombeerbüschen und Dornengestrüpp, wie uns gesagt wurde, und voller alter Höhlenlöcher und Kaninchenbaue. Sie waren alle leer und kalt, kein Kaninchen von Nutley Copse ging dort in die Nähe, nicht einmal mit hrair Wiesel auf den Fersen.
Wir wußten nur - die Geschichte war seit Frith weiß wie lang immer wieder überliefert worden -, daß da vor langer Zeit Kaninchen irgend etwas Schlimmes zugestoßen war, was mit Männern oder Jungen zu tun hatte, und daß es dort spukte. Die Owsla glaubten das, jeder einzelne von ihnen, folglich glaubten es auch alle anderen im Gehege. Soweit wir wußten, hatte da seit Kaninchengedenken kein Kaninchen jemals sein weißes Schwänzchen gezeigt. Manche sagten allerdings, daß man dort nach Einbruch der Nacht und an nebligen Morgen schon schrille Schreie gehört habe. Ich muß sagen, ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht, ich machte einfach, was jeder machte - ich ging einfach nicht hin.
In meinem ersten Jahr, als ich in Nutley Copse nur eine Randfigur war, ging's mir ziemlich dreckig, und ein paar Freunden von mir ging's genauso. Eines Tages beschlossen wir auszuziehen und ein besseres Heim zu suchen, ich und zwei gleichaltrige Freunde; der eine hieß Stitchwort und der andere, ein recht schüchternes Kaninchen, Fescue. Wir hatten auch ein Weibchen dabei, ich glaube, sie hieß Mian. Wir brachen an einem ziemlich kühlen Apriltag gegen ni-Frith auf.«