El-ahrairah und Rabscuttle machten es sich im Gehege bequem, das im übrigen sosehr nach ihrem Geschmack war, so daß sie keinen Drang verspürten, schnell wieder weiterzuziehen. Die Kaninchen waren so freundlich und gesellig, wie man sich's nur wünschen konnte. Besonders Burdock zeigte sich erfreut über die Besucher und über die Möglichkeit, mehr von ihrer Welt zu erfahren. Er und verschiedene andere seiner Owsla kamen oft am Abend, um silflay mit ihnen zu machen und wollten von ihren Abenteuern »draußen in der weiten Welt« erzählt bekommen.
In seinen Antworten war El-ahrairah immer darauf bedacht, kein Wort über das Schwarze Kaninchen zu verlieren; die Gastgeber waren zu höflich, um seine verletzten Ohren zu erwähnen, und deshalb blieb es ihm erspart, über den Grund ihrer Wanderung zu sprechen und über das Ziel, dem sie zustrebten. Sie respektierten offenbar ihn und Rabscuttle als welterfahrene Kaninchen, die alle möglichen Gefahren bestanden hatten.
»Was ihr da vollbracht habt, das hätte ich niemals fertigbringen können«, meinte Celandine, der Vorsitzende der Owsla, als sie eines sonnigen Abends zusammen am Hang lagen. »Mir ist es lieb, in gesicherten Umständen zu leben. Ich hab' nie den Wunsch gehabt, das Gehege zu verlassen und in fremde Länder zu wandern.«
»Nun ja, von euch ist ja auch keiner je dazu getrieben worden«, meinte Rabscuttle. »Ihr habt hier wirklich Glück gehabt.«
»Ja, wie denn? Seid ihr denn dazu getrieben worden?« fragte Celandine.
Rabscuttle fing einen warnenden Blick von El-ahrairah auf und antwortete nur: »Na ja, so könnte man sagen.« Da Celandine ihn nicht weiter drängte, ließ er es dabei bewenden.
Ein paar Tage später, schon nach Sonnenuntergang, als die meisten Kaninchen ihr silflay beendeten und sich im Gehege schlafen legen wollten, kam ein anderer hlessi, ein völlig Fremder humpelnd den Hang entlang und verlangte, zum Anführer geführt zu werden. Als man ihm vorschlug, er solle doch zuerst rasten und ein paar Happen zu sich nehmen, wurde er ganz aufgeregt und beharrte darauf, daß er dringende Nachricht habe - es gehe um Leben und Tod. Darauf brach er auf dem Gras zusammen, er war anscheinend völlig erschöpft. Jemand holte Burdock, der sofort kam, begleitet von El-ahrairah, Rabscuttle und Celandine.
Zuerst konnten sie den Fremdling nicht wieder zu sich bringen, doch nach einiger Zeit machte er die Augen auf, setzte sich aufrecht hin und fragte nach dem Anführer. Burdock bedeutete ihm freundlich, sich Zeit zu lassen, bevor er redete, aber darauf wurde der Fremde nur noch erregter.
»Ratten«, keuchte er. »Die Ratten kommen. Tausende von Ratten. Wilde Ratten. Raubratten.«
»Du meinst, sie kommen zu uns?« fragte Burdock. »Wo kommen sie her? Und du meinst, wir sind in Gefahr? Normalerweise haben wir keine Angst vor Ratten.«
»Euer ganzes Gehege ist in Gefahr«, antwortete der hlessi. »Ihr seid alle in Lebensgefahr. Es handelt sich um eine Invasion von Ratten. Sie sind nur noch einen Tag von euch entfernt. Sie töten jede Kreatur auf ihrem Weg. Es war lange vor Morgengrauen, noch mitten in der Nacht, als wir alle, jedes einzelne Kaninchen im Gehege, aufwachten, denn da waren sie schon unter uns. Niemand hatte sie gehört oder gewittert. Ein paar von uns versuchten zu kämpfen, aber das war unmöglich. Da standen tausend Ratten gegen jedes Kaninchen. Manche von uns versuchten noch mit aller Kraft hinauszukommen und zu fliehen, aber ich glaube, ich bin der einzige, dem es gelungen ist. Draußen im Dunkeln konnte ich nicht viel sehen, aber ich hörte auch keine Kaninchen mehr. Überall waren Ratten, alle Ratten der Welt, hätte man glauben können. Unmöglich, nach anderen Kaninchen zu suchen, ich konnte nur noch rennen. Tatsächlich mußte ich mitten durch eine Ansammlung von ihnen rennen und bekam überall auf meinen Beinen Bisse ab. Ich weiß nicht, um alles in der Welt, wie ich da herausgekommen bin. Ich trat und biß um mich, wild und ohne zu denken, in Todesangst, und plötzlich merkte ich, daß sie offenbar abgezogen waren und daß ich allein im Gras war. Ich muß gestehen, ich habe mich nicht aufgehalten, um mich nach anderen Kaninchen umzusehen - das hättet ihr auch nicht getan. Aber später, sehr viel später, spähte ich von dort, wo ich hingelangt war, hinunter und sah die Ratten unter mir. Massen von Ratten, und sie kommen alle hierher. Vor lauter Ratten war kein Gras zu sehen. Ich würde sagen, morgen müßten sie hiersein. Ihr habt nur noch eine Chance: Haut ab, und zwar schnell!«
Burdock blickte unsicher und entsetzt auf Celandine. »Was sollen wir machen? Was meinst du?«
Aber Celandine schien genauso fassungslos.
»Ich weiß nicht. Mach nur, wie du denkst, Anführer.«
»Sollen wir die Ratsversammlung einberufen und dort die Sache vorlegen?«
El-ahrairah hatte bis jetzt noch nichts gesagt, aber an diesem Punkt fühlte er sich gedrängt einzugreifen.
»Anführer, du hast keine Zeit mehr für eine Ratsversammlung. Die Ratten sind ganz sicher morgen hier, noch vor ni-Frith. Du mußt hier weg, und zwar eilends.«
»Falls unsere Kaninchen mitkommen«, sagte Burdock. »Vielleicht weigern sie sich. Von den Ratten haben sie bis jetzt noch nichts gehört.«
»Du hast keine andere Wahl«, mahnte ihn El-ahrairah.
»Aber wohin sollen wir gehen?« fragte Celandine. »Auf zwei Seiten des Geheges ist ein Fluß, den können wir nicht durchschwimmen, dafür ist er zu breit. Die Ratten würden unsere Kaninchen am Ufer erwischen. Und auf der Westseite ist nur Sumpf.«
»Wie groß ist der?« wollte El-ahrairah wissen.
»Das weiß hier keiner. Es ist nicht möglich, ihn zu überqueren. Da gibt's keine Wege. Da gibt's nur Moorweiher und Morast. Wir würden im Sumpf versinken. Aber die Ratten nicht. Die sind ja soviel leichter.«
»Dennoch. Nach allem, was ich von dir gehört habe, glaube ich, wir müssen es probieren, Anführer. Ich bin bereit, sie selber über den Sumpf zu führen, wenn du mich unterstützt und ihnen sagst, daß sie mir folgen müssen.«
»Und was, in Friths Namen, weißt du denn davon?« sagte Celandine ärgerlich. »Ein hirnloser hlessi, der nur ein paar Tage hier war?«
»Bitte sehr, wie's beliebt«, entgegnete El-ahrairah. »Du selber hast doch nichts vorgeschlagen. Ich jedenfalls bin bereit, mein Bestes für euch zu tun.«
Burdock und Celandine fingen dann unsinnigerweise an zu streiten, weil sie Angst hatten, wie El-ahrairah erkannte, und weil sie, aus ihrer Angst heraus, irgendwie hofften, wenn sie nur dauernd weiterredeten, würde schon irgend etwas geschehen.
»Rabscuttle«, sagte er ruhig, »mach so schnell wie möglich die Runde und erzähle den Kaninchen von den Ratten. Sag ihnen, daß wir beide sie über den Sumpf führen werden, Abmarsch fu-Inle. Sag ihnen, wir treffen uns alle bei der Platane da drüben - siehst du sie? Und wir hätten keine Zeit zu verlieren. Wenn welche sagen, sie kommen nicht mit, versuche nicht, sie zu überzeugen, laß sie einfach stehen. Und vor allem, laß sie nicht glauben, du hättest Angst! Sei so gelassen und vertrauenerweckend, wie du nur kannst.«
Rabscuttle stupste El-ahrairahs Nase an und war auf der Stelle verschwunden. El-ahrairah wandte sich zu Burdock und Celandine und sagte ihnen, was er getan hatte. Er hatte erwartet, daß sie ihn beschimpfen und verdammen, vielleicht sogar angreifen und verprügeln würden, doch zu seiner Überraschung taten sie nichts dergleichen. Sie waren zwar verschnupft und billigten sein Vorgehen nicht, aber insgeheim waren sie froh, daß jemand ihnen die Verantwortung für diese fürchterliche Geschichte abgenommen hatte. Wenn die Sache schiefgehen sollte, wovon sie offensichtlich überzeugt waren, konnten sie ihm die Schuld geben, doch wenn er entgegen aller Wahrscheinlichkeit erfolgreich war, konnten sie sagen, sie hätten ihn bevollmächtigt, sein Bestes zu tun.