»Schau nicht zurück«, sagte El-ahrairah zu dem zitternden Rabscuttle, »und sprich niemals darüber. Wir wollen doch nach Hause - das weißt du doch. Und ich hab' so eine Ahnung, daß das nicht mehr weit weg ist.«
11. El-ahrairah und der lendri
Tommy Brock hatte üble Gewohnheiten.
Er aß Wespennester und Frösche und Würmer und watschelte im Mondlicht herum und grub Sachen aus der Erde.
Beatrix Potter (The Tale of Mr. Tod)
Ein paar Tage lang - erzählte Dandelion weiter -, nachdem sie die armen Kaninchen und Burdock verlassen hatten, liefen El-ahrairah und Rabscuttle durch die sommerlichen Wiesen mit hohem Gras, ohne daß etwas passierte.
Eines Abends, als sie es sich im Stroh einer alten Scheune bequem machten, sagte Rabscuttle: »Wir sind jetzt bestimmt nicht mehr weit von zu Hause weg, Meister. Ich spüre es am ganzen Leib. Du nicht?«
»Also ich kann's ja nicht gut an deinem Leib spüren«, antwortete El-ahrairah, der es nicht lassen konnte, Rabscuttle manchmal ein wenig zu necken, »aber ich spüre es selber auch. Dennoch habe ich so eine Ahnung, daß uns da noch ein großes Hindernis im Wege steht. Wir sollten gut aufpassen und sehr vorsichtig weitergehen. Wäre doch ein Jammer, wenn wir so kurz vor dem Ziel aufgehalten würden.«
Es war schon später Nachmittag am nächsten Tag, als ein dichter Wald vor ihnen auftauchte. Aber es war kein gewöhnlicher Wald, das sah man sofort. Er erstreckte sich nach beiden Seiten in die Weite, und da gab es augenscheinlich keine Lücke und keinen Einlaß, der den Anfang eines Pfads in die miteinander verfilzten Bäume und das undurchdringliche Gestrüpp angezeigt hätte.
»Ich fürchte, wir haben keine Wahl«, sagte El-ahrairah, nachdem er eine Weile den Wald nachdenklich betrachtet hatte. »Wir müssen durch dieses abschreckende Gewirr hindurch, davon bin ich überzeugt; du nicht auch?«
»Ich leider auch, Meister«, erwiderte Rabscuttle, setzte sich ins Gras und putzte sich das Gesicht mit den Vorderpfoten. »Aber allein bringen wir das nicht fertig. Wir brauchen irgendeine Hilfe. Wir können nicht einfach so in diese wirre Wildnis eindringen, wir hätten uns in einer halben Stunde verirrt, und in einem halben Tag wären wir tot.«
»Was denn für eine Hilfe?« fragte El-ahrairah. »Wir sollten lieber versuchen, jemanden zu finden, der sich hier auskennt.«
Sie gingen auf den Wald zu, und schon bald stießen sie auf eine sehr große Ratte; sie war fast so groß wie El-ahrairah. Sie saß in der Sonne und meditierte zweifellos, wie die Kaninchen dachten, über einen schändlichen und mörderischen Plan in allen Einzelheiten. Keinem von beiden war wohl dabei zumute, aber dennoch, sagte sich El-ahrairah, als die Ratte ihn stumm mit einem bösartigen und hinterlistigen Blick beäugte, irgendwo müssen wir ja anfangen. Er grüßte die Ratte höflich und setzte sich am Grabenrand neben sie.
»Vielleicht könntest du uns einen Rat geben«, begann er. »Wir müssen hier durch diesen Wald.«
»Warum?« fragte die Ratte, und ihre Schnauzhaare zuckten auf eine abstoßende Weise.
»Wir wollen nach Hause«, sagte El-ahrairah.
»Und wie zum Teufel kommt es dann, daß ihr hier seid?« wollte die Ratte wissen.
»Auf Anordnung von Frith, unserem Herrn«, antwortete El-ahrairah. »Auf sein Gebot hin mußten wir eine lange Reise unternehmen, und wir haben Glück gehabt, daß wir noch am Leben sind. Aber jetzt gehen wir nach Hause.«
»Ihr seid aber noch nicht zu Hause«, sagte die Ratte und fletschte hämisch grinsend ihre gelben Zähne. »Noch nicht! O nein!«
El-ahrairah sagte nichts darauf, und eine Weile herrschte Schweigen.
»Ihr kommt nie durch diesen Wald«, meinte die Ratte endlich. »Soviel ich weiß, ist da noch nie einer durchgekommen.«
»Kennst du jemanden, der uns vielleicht helfen könnte?« fragte Rabscuttle.
»Das einzige Wesen, das vielleicht in der Lage wäre, euch zu helfen, wenn ihm der Sinn danach stünde«, sagte die Ratte und lachte höhnisch, »das wäre der Alte Brock. Aber der frißt euch wahrscheinlich eher, als daß er euch hilft.«
»Wo können wir ihn finden?« fragte El-ahrairah.
»Schwer zu sagen«, meinte die Ratte. »Der ist immer hier irgendwo am Waldrand und wühlt in der Erde herum. Wenn ihr ebenfalls den Waldrand rauf und runter geht, findet er euch vielleicht. Der Tod durch ihn ist so gut wie jeder andere Tod. Warum sollte er euch helfen? Habt ihr euch das mal überlegt?« Und mit einem Satz war sie in der Hecke verschwunden.
Es ging am nächsten Tag schon auf ni-Frith zu, als die zwei Kaninchen die Ausläufer des Waldes erreichten, und da war es genauso wüst und wild. Der Blick in den Wald, vorsichtig ausgedrückt, war nicht ermutigend. Große Bäume schien es nicht zu geben, und das hieß, daß niemand den Wald ausdünnte und die Bäume nie zurückgeschnitten wurden. Dieser Wald war ein Urwald. Die Bäume wuchsen so dicht nebeneinander, daß sogar jetzt, zur Mittagszeit, das Tageslicht ausgeschlossen war. Das Dickicht war so verfilzt, daß selbst Kaninchen, die ja gewohnt waren, sich durch schwierige Hindernisse hindurchzuzwängen, keine Zutrittsmöglichkeit sahen. Sie gingen weiter am Waldrand entlang, aber es wurde nicht besser. El-ahrairah, der hartnäckig war und nicht so schnell zu entmutigen, schaute sich noch lange an den Rändern um, war aber endlich gezwungen zuzugeben, daß er nicht weiter wußte.
»Wir müssen wohl versuchen, den Alten Brock zu finden, den uns die Ratte genannt hat«, sagte er zu Rabscuttle.
»Aber wenn der uns eher frißt als uns hilft?« fragte Rabscuttle.
»So schnell frißt der mich nicht«, meinte El-ahrairah. »Ich sage dir, ich bin wild entschlossen, durch den Wald zu kommen, und wenn das nur mit Hilfe vom Alten Brock möglich ist, dann werde ich ihn auch finden. Dabei fällt mir gerade etwas ein: Wir werden ihn wahrscheinlich eher nachts als tagsüber finden, verdammt noch mal.«
Kaninchen sind bei Dunkelheit, die ihnen nur angst macht, nicht gern draußen. Die Dämmerung und der Abend sind die Zeiten, wo sie sich normalerweise im Gelände bewegen. In dieser Nacht hatte selbst El-ahrairah starke Befürchtungen, als er daranging, das Randgebiet des Waldes zu durchstreifen.
Der abnehmende Mond verbreitete wenig Licht, und jedes kleinste Geräusch unerkennbarer Herkunft war wie ein Alarm. Sie kamen langsam vorwärts und schreckten dauernd zusammen. Dennoch hatten sie Glück - wenn man die schnelle erfolgreiche Beendigung einer Suche dieser Art Glückhaben nennen konnte. Die Nacht war noch nicht halb vorüber, als El-ahrairah, geduckt am Fuß eines Baumes aufmerksam lauschend, plötzlich von einer großen Pfote niedergehalten wurde und eine tiefe Stimme leise sagte: »Was machst du da? Wieso bist du überhaupt hier?«
El-ahrairah bekam keine Luft mehr und konnte nicht sprechen. Zu Ehren Rabscuttles muß gesagt werden, daß er nicht weglief, sondern Antwort gab. »Wir sind auf der Suche nach ... eh ... dem großen Herrn Brock. Bist du das, Herr?«
Der riesige Dachs machte keine Miene, El-ahrairah loszulassen, und sagte: »Was interessiert es dich, wer ich bin? Warum habt ihr mich gesucht?«
»Wir müssen durch diesen Wald kommen, Herr, ganz hindurch zur anderen Seite. Es ist für uns die einzige Möglichkeit, nach Hause zu kommen. Man hat uns gesagt, daß uns niemand außer dir helfen kann.«
Daraufhin hob der Dachs die Pfote und erlaubte El-ahrairah herauszukriechen und sich hinzusetzen. Der Dachs sah die Kaninchen grimmig und feindselig an.
»Wie kommt ihr darauf, daß ich euch helfen würde?«