Wenn eine Mutter sich doch damit abfinden könnte, nur Mutter zu sein -doch wo findet man eine, die mit dieser Rolle zufrieden ist?
Elias Canetti (Auto da Fe)
Vom Winter, von Pest und Plagen, lieber Gott, befreie uns!
Thomas Nashe (Summer's Last Will and Testament)
Wie die Möwe vorausgesagt hatte, ließ die plötzliche Kälte nicht lange auf sich warten. Gleich in der Nacht nach ihrer Rückkehr gab es scharfen Frost. So kalt blieb es auch am folgenden Tag, und in der Nacht wurde der Frost noch beißender. Es war allen Kaninchen Hazels klar, daß die bittere Winterkälte, vor der sie Kehaar gewarnt hatte, über sie gekommen war. Von nun an hielt der scharfe Frost den ganzen Tag an und verschärfte sich noch jede Nacht unter einem klaren Himmel. Von Horizont zu Horizont glitzerten die Sterne mit eisigem Glanz, und unter ihnen, auf tiefgefrorenem Boden, rührte sich nichts mehr. Die Tiere verhungerten oder verließen die Downs, um ihr Glück etwas weiter unterhalb zu versuchen, in den Feldern und Gärten von Ecchinswell oder Kingsclere. Eulen und Turmfalken folgten ihren Beutetieren notgedrungen nach, und auf den hohen Hügelkämmen von Beacon Hill bis Cottington's Clump regte sich kein Leben mehr.
Von Hazels Kaninchen hatte keines je eine so langdauernde und eisige Kälte erlebt. In dem ausgedünnten, vielfach abgenagten Gras war wenig Freßbares zu finden, und selbst aus den aneinander gekuschelten Leibern unter der Erde war wenig Wärme zu gewinnen. Die Kaninchen wurden apathisch, und es gab welche, die meinten, diese Kälte würde nie enden, und es war sehr schwer, sie davon zu überzeugen, daß Ausdauer und Lebenswille sich lohnten und auch die richtige Antwort auf die Kälte wären, so wie es Frith der Herr auch vorgesehen hätte.
Eines Nachmittags ließ die Kälte etwas nach. Wolken bedeckten den westlichen Himmel und zogen gemächlich näher, bis sie über dem Gehege verhielten, schwergewichtig, wie es schien, als trügen sie eine unsichtbare Last, die auf das Gehege drückte und es noch stärker lähmte als der Frost. Es war windstill, und doch zog die Wolkenmasse, die nun den ganzen Himmel ausfüllte, langsam ostwärts und wurde dabei immer fülliger.
Dann fiel Schnee, zuerst nur wenig und in verschiedene Richtungen verteilt, die Flocken am Boden schmelzend. Ein leichter, aber eiskalter Wind kam auf und trieb die Flocken vor sich her. Doch bald schneite es stärker, so daß man durch die Flocken hindurch nur mehr andere Flocken sah, die sich wirbelnd in Kreisen drehten, bevor sie die Erde erreichten. Der Schnee sammelte sich hinter Grasbüscheln, und die einzelnen Stellen wuchsen zu einer geschlossenen Decke zusammen. Als es dämmerte, war das ganze Gelände weiß, und auf diese glatte weiße Fläche schneite es immer weiter, und die weiche Schneemasse wurde immer höher.
Hazel war den ganzen Tag tätig gewesen, hatte alle Kaninchen aufgesucht und mit ihnen gesprochen; jetzt spähte er unter dem Schnee hervor nach draußen und wußte, daß es nun Zeit war, sie zu den Winterbauen zu führen, die Bluebell, Pipkin und die Weibchen im Herbst gegraben hatten. Er hatte sie nie inspiziert, und deswegen tadelte er sich jetzt. Eines war sicher: Weiteres Graben war nicht mehr möglich; der Boden war hart wie Stein. Sie würden die Winterbaue so nehmen müssen, wie sie waren.
Trotzdem wollte er aber vorher den Hügel allein hinuntergehen und sich die Baue selber einmal ansehen. Dann jedoch fiel ihm ein, daß er Bluebell mitnehmen müßte, da Bluebell ihm versichert hatte, die Löcher seien gut verdeckt; ohne ihn würde er die Baue wahrscheinlich gar nicht finden. Schließlich beschloß er, Bluebell und Pipkin mitzunehmen und außerdem jedes der Weibchen, das mitkommen wollte.
Als er sie alle zusammen hatte und gerade losziehen wollte, kam Bigwig hinzu, der sie fragte, wohin sie gingen und warum. Hazel erklärte es ihm, und da bat er, mitkommen zu dürfen. Hazel spähte hinaus, wo es immer noch schneite, und war ganz froh, daß er mitkam.
Auch bei dem Schnee war die Richtung kein Problem, denn es war nur eine kurze Strecke bis zum nördlichen Ende des Down, und dann ging es den steilen Hang ganz hinunter. Sie konnten indessen durch den Schnee kaum etwas sehen, und weder Bluebell noch Pipkin konnten sich an die Lage der Löcher erinnern und wußten auch nicht mehr, wie weit sie am Fuß des Hügels noch gehen mußten.
Nach einigem vergeblichen Suchen vermutete Pipkin, daß sie vielleicht zu weit gegangen wären und umkehren mußten, um nach einer ganz bestimmten Stelle zu schauen, an die er sich jetzt erinnerte. Diese Annahme erwies sich fast sofort als richtig, als Bluebell auf dem schneebedeckten Hang etwas höher geklettert war und auf eines der Löcher stieß, die eine Ansammlung von Disteln verdeckte.
Hazel und Bigwig fanden ihn, wie er über dem Loch hockte und verwirrt und unsicher hineinspähte.
»Hazel-rah«, sagte er, »wenn mich nicht alles täuscht, ist der Bau schon länger benutzt worden. Und außerdem glaube ich, daß in diesem Moment Kaninchen da unten sind.« Er rückte beiseite. »Sieh mal selber hinein.«
Hazel stieß seine Vorderpfoten durch den Schnee. Er war nicht ganz sicher, aber er glaubte doch vertiefte Kratzspuren in dem gefrorenen Boden und eine kleine Unregelmäßigkeit in der Öffnung zu spüren. Es roch auch nach Kaninchen. Er wandte sich zu Bigwig. »Ich glaube, er hat recht. Es sind tatsächlich Kaninchen da unten. Ich denke, wir gehen selber mal rein und sehen nach, wer das ist.«
Ungesäumt ging er in den Bau. Er wußte Bigwig hinter sich und war sicher, daß die anderen folgten. Es war ein recht langer Gang, ohne Hindernisse, aber soviel er sah, lauerte am Ende kein Feind auf ihn. Er kam in einen Wohnkessel und hielt an, um auf Bigwig zu warten.
Doch plötzlich sah er sich einem schweren, stämmigen fremden Weibchen gegenüber. Seine Haltung war feindselig, und hinter dem Weibchen drängte sich ein Häufchen junger Kaninchen zusammen.
»Was fällt dir denn ein, hier hereinzukommen?« schnaubte das Weibchen. »Raus hier, bevor ich -«
Es unterbrach sich, als es Bigwig hinter Hazel sah, und während es zögerte, kamen Bluebell und Pipkin herein, denen die Weibchen folgten.
»Ich glaube, du sagst uns lieber, wer du bist und was du hier machst«, sagte Hazel ruhig, aber fest. »Das ist unser Bau. Wir haben ihn gegraben.«
Das Weibchen zögerte immer noch, und da fragte Bigwig neben Hazel versuchsweise: »Wäre es möglich, daß du ... das heißt... ich meine ... könnte es sein, daß du Flyairth heißt und aus Thinial kommst?«
Das Weibchen schrak zusammen und zitterte vor Angst. Sein Verhalten war verändert. Bigwig sagte nichts mehr. Endlich erwiderte es: »Wer seid ihr? Wie könnt ihr wissen -« Es brach ab. Jetzt wiederholte Bigwig seine Frage mit größerer Zuversicht: »Ist dein Name Flyairth?«
»Dann bist du aus Thinial gekommen?« fragte das Weibchen.
»Nein, bin ich nicht«, antwortete Bigwig. »Zum dritten Mal jetzt: Heißt du Flyairth?«
Hazel griff jetzt ein. »Wir wollen uns alle erst einmal bequem hinsetzen und die Sache klären.« Er ließ sich nieder und fuhr dann fort: »Der Bau, in dem wir gewöhnlich wohnen, liegt etwas höher, nicht weit von hier. Wir haben diesen Bau hier letzten Herbst gegraben, um eine geschütztere Unterkunft zu haben, wenn es zu schneien anfängt. Wir wollen keinen Streit mit dir, aber natürlich sind wir überrascht, dich hier zu finden.«
Das Weibchen fragte Bigwig: »Woher weißt du meinen Namen und wo ich herkomme?«
»Das kann ich nicht erklären«, antwortete Bigwig, »jedenfalls nicht jetzt. Und ob du hierbleiben kannst, wird unser Leitkaninchen hier entscheiden.«
Doch das Weibchen beharrte auf seiner Frage. »Bist du denn in Thinial gewesen? Woher weißt du etwas von Thinial?«
»Im Moment spielt das keine Rolle«, sagte Hazel.
»Du sollst jedenfalls wissen, daß wir nicht deine Feinde sind. Du kannst bleiben, jedenfalls im Augenblick. Bigwig hier und ich gehen jetzt hinauf, um den Rest unserer Kaninchen herunterzubringen.«