Das junge Weibchen neben ihr schlief fest. Wenn sie es nur heil ins Gehege bringen könnte, dachte sie, dann wäre ihre Beharrlichkeit, allein herzukommen, schon gerechtfertigt. Um das fertigzubringen, mußte sie allerdings selber am Leben bleiben, doch mehr als aufpassen konnte sie dazu nicht tun.
Überrascht sah sie, daß der Mond fast untergegangen war. Sie war wohl eingeschlafen, ohne es zu merken, und nichts Böses hatte sich ereignet. Das gab ihr neuen Mut, und sofort besserte sich ihre Laune. El-ahrairah würde ein treues Kaninchen nie im Stich lassen, dachte sie.
Doch nach einiger Zeit hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden, und im selben Augenblick teilte sich schon das hohe Gras, und da stand eine Ratte.
Im schwindenden Licht des Mondes nahmen sie gegenseitig Maß, eine ganze Weile lang. Die Ratte war nicht sehr groß -doch groß genug. Sie war ganz offensichtlich auf Nahrungssuche. Auf ihren gefletschten Zähnen sah Hyzenthlay noch Fleischreste hängen. Die Ratte blinzelte ein paarmal, ließ ihre Schnurrhaare zucken und kam näher. Noch war sie unentschlossen.
Hyzenthlay sprach zu ihr im Heckenjargon. »Junges Weibchen meins. Ich Mutter. Du kommen töten, ich dich kaputtmachen bis tot.« Instinktiv stellte sie sich auf die Hinterbeine, um der Ratte mit ihrer überragenden Größe und Höhe zu imponieren. Jetzt wurde Nyreem wach und fing an zu winseln.
Hyzenthlay stellte sich zwischen Nyreem und die Ratte. Aber nun fiel eine gefiederte Masse, krallenbewehrt und nach Blut riechend, völlig geräuschlos aus der Höhe herab und war sofort, noch ehe sich Angst einstellen konnte, wieder mit der Ratte in ihren schrecklichen Krallen verschwunden.
»Was ist passiert? Oh, was war das?« rief Nyreem und drückte sich ängstlich an Hyzenthlay.
»Eine Eule«, erwiderte diese. »Ist schon wieder weg. Brauchst keine Angst zu haben, Kleines. Ich bin hier. Schlaf jetzt wieder.«
Sie schlief selbst auch wieder ein und dachte noch in einer Art dumpfer Gleichgültigkeit, daß alles geschehen war, was überhaupt geschehen konnte, und jetzt brauche sie sich um nichts mehr zu sorgen.
Als sie erwachte, war es kurz nach Sonnenaufgang; eine Amsel in der Buche sang, als gäbe es keine Angst auf der Welt. Auch Nyreem wachte auf, und Hyzenthlay fragte sie, wie es ihrem Bein ginge. Die Schwellung war in der Tat sehr zurückgegangen, und sie konnte schon ein paar Schritte humpeln. Hyzenthlay gebot ihr, sich wieder hinzulegen und weiter zu ruhen. Sie ging etwas umher, um sich umzusehen, biß einen Wiesenknopf und ein paar Wiesenampferblätter ab, die sie zusammen fraßen, und legte sich in die Sonne, die allmählich wärmer wurde.
Hyzenthlay fragte Nyreem, warum sie Efrafra mit den anderen Kaninchen verlassen hatte. Das kleine Weibchen antwortete, daß es wie Quiens werden wollte, ein älteres Kaninchen, das es sehr bewunderte. »So hab' ich mir das Bein verletzt«, sagte Nyreem. »Quiens sprang einen Steilhang hinab und ich machte es ihr nach, aber für mich war das noch zu schwer. Zuerst dachte ich, ich hätte mir das Bein gebrochen. Ich weiß, es war dumm von mir, aber sie waren alle sehr nachsichtig. Ich hoffe wirklich, daß sie gestern Abend heil in deinem Gehege angekommen sind.«
Die Sonne stieg gegen ni-Frith, und Hyzenthlay überlegte, ob sie von Nyreem schon verlangen könnte, sich anzustrengen, um weiterzulaufen. Sie hatte wirklich keine Lust, noch eine Nacht im Freien zu verbringen. Die Entscheidung war schwer, aber notwendig. Schließlich dachte sie, es wäre am besten, bis zum Abend zu warten und Nyreem dann zu ermutigen, sich nach Kräften zu bemühen. Den Kopf tief im Gras, ließ sie sich geduldig nieder, um die Insektenwelt zwischen Sonnenflecken und Tau zu beobachten. Aber in dem Herumgewusel im Gras konnte sie wirklich weder Sinn noch Verstand entdecken. Sie selbst lag so still, daß die Amsel, die nach Eßbarem suchte, neben ihr landete und herumpickte, bevor sie wieder davonflatterte.
Es war ein langer Tag. Das einzige, was sich bewegte, waren die Schatten der dünnen Grashalme und die Wolken, die vorüberzogen, und beides war so fließend und regelmäßig, daß nichts die Eintönigkeit unterbrach. Am späten Nachmittag ließ die Hitze etwas nach, und sie döste noch einmal und wurde erst wach, als ein Paar Finken neben ihr herabkamen, alle Grassamen abstreiften und rastlos weiterhüpften.
Kurz darauf schreckte sie hoch, hob die Ohren, lauschte angespannt und spähte nach allen Seiten. Irgendein Tier kam durch das Gras, mindestens so groß wie sie, wenn nicht größer. Es kam gegen den Wind, sie konnte nichts erschnüffeln, sah aber, wie das Gras geradewegs auf sie zu in stetiger Bewegung war. Instinktiv kauerte sie sich tief nieder, die Hinterläufe angezogen und zum Sprung bereit.
Als nächstes teilte sich das Gras vor ihr, und Bigwig erschien.
»Bigwig!« rief Hyzenthlay, zutiefst erleichtert und sofort überzeugt, daß all ihre Probleme so gut wie gelöst waren. »Bigwig! Wieso in aller Welt bist du hier?«
»Och, ich ... ich war gerade ... ich hab' gerade einen Spaziergang gemacht, weißt du«, antwortete Bigwig etwas verlegen. »Ich ... dachte mir, vielleicht bist du sogar hier irgendwo in der Nähe. Und wie geht's dir?« Das fragte er Nyreem. »Geht's besser mit dem Bein? Deine Freundinnen aus Efrafra warten schon auf dich und hoffen, daß du heute Abend bei ihnen bist. Versuch mal, ob du damit laufen kannst, denn wir müßten jetzt aufbrechen.«
»Oh, das geht sicher ganz gut«, erwiderte Nyreem. »Wenn wir nicht zu schnell laufen, dann komme ich bestimmt gut mit.«
»Schön!« sagte Bigwig. »Dann wollen wir mal. Ich gehe auf der einen Seite und ... eh ...«, er würgte etwas herunter, » ... Hyzenthlay-rah auf der andern. So schaffst du es.«
Sie setzten sich langsam in Marsch. Nyreem hoppelte nach besten Kräften mit, entschlossen, nicht zu klagen. Wenn nicht alles täuschte, war das neben ihr kein anderer als Thlayli, der berühmte Hauptmann vom Watership Down, der den grausigen General Woundwort im unterirdischen Kampf besiegt hatte. Sie blickte verstohlen zu ihm hin. Ja, das mußte er sein. Über und über vernarbt und auf seinem Kopf das charakteristische Fellbüschel, das ihm das Aussehen eines großen Anführers gab. War er wirklich nur ihretwegen gekommen? Oder eher wegen Hyzenthlay, die über ihren Kopf hinweg mit ihm sprach und Thlayli von der Ratte und der Eule berichtete. Daß sie sich um sie kümmerten, betrachteten sie offenbar als Teil ihrer täglichen Arbeit und als Pflicht der Gehegeführung. Sie hatten die Verantwortung für jedes Kaninchen vom Watership Down, wie klein und unbedeutend es auch sein mochte. Das also war es, was die Kaninchen dieses Geheges auszeichnete! Nyreem beschloß jetzt und hier, niemals etwas zu tun, wodurch sie ihren Platz im Gehege verwirken könnte.
Kurz vor Einbruch der Nacht kamen sie an und trafen Hazel und Silver, die so taten, als beendeten sie gerade ein spätes silflay, in Wirklichkeit aber nach ihnen ausgeschaut hatten. Nyreem war viel zu überwältigt, um ihnen zu danken; sie gesellte sich zu ihren Gefährtinnen aus Efrafra und erzählte von ihrem Abenteuer. Sogar Quiens schien recht beeindruckt, und Nyreem konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, sie habe sich im neuen Gehege offenbar gut eingeführt.
17. Sandwort
Die Kinder haben harte Köpfe und verstockte Herzen.
Hesekiel 2, 4