Kleinere Zwischenfälle dieser Art gab es immer wieder, bis ganz klar war, daß Sandwort sie bewußt bei jeder sich bietenden Gelegenheit provozierte, hauptsächlich in Gegenwart jüngerer Kaninchen, die dann im Gehege darüber klatschen konnten. Einmal artete das sogar in Handgreiflichkeiten aus, die aber dem älteren Kaninchen schlecht bekamen, da Sandwort stark und schwergewichtig war. Eines Tages hörte Holly zufällig mit, wie einer der Jüngeren von »Sandworts Owsla« sprach. Bigwig, der davon informiert wurde, wurde daraufhin so wütend, daß man ihn davon zurückhalten mußte, sich auf der Stelle mit Sandwort anzulegen. »Er selber hat es ja nicht gesagt«, stellte ihm Hazel nachdrücklich vor. »Er hätte dann nur einen begründeten Vorwurf dir gegenüber, und das würde er nach Kräften ausnutzen.«
Bevor sich jedoch die Situation durch Sandworts Verhalten weiter zuspitzte, kam es zu einer Krise ganz anderer Art. Eines Morgens, ein, zwei Stunden nach Sonnenaufgang, stürzten zwei Jungkaninchen, Crowfoot und Foxglove, beides Freunde von Sandwort, angsterfüllt ins Gehege und wollten sofort Hazel sprechen.
»Wir waren im Garten des großen Hauses unten am Hügel«, sagte Crowfoot, »nur wir zwei und Sandwort. Wir haben flayrah gesucht, und da kam plötzlich dieser Riesenhund bellend und knurrend auf uns zugestürmt. Sandwort sagte, wir sollten uns trennen, und wir liefen so schnell wir konnten in verschiedenen Richtungen davon. Der Hund hat uns nicht verfolgt, und nach einer Weile sind wir zurückgegangen, um Sandwort zu suchen. Und das ist passiert: Er ist in eine Grube gefallen und kann nicht mehr raus.«
»Eine Grube?« fragte Hazel. »Was für eine Grube?«
»Die haben Menschen gegraben«, sagte Foxglove. »Nicht ganz so tief wie ein Mann groß ist, und die Seiten sind genauso lang. Die Seiten und der Boden sind ganz glatt, wie eine Mauer, nirgends was zum Festhalten, und da liegt Sandwort unten drin.«
»Verletzt?«
»Glauben wir nicht. Wir glauben, er ist vor dem Hund weggerannt, genau wie wir, hat nicht aufgepaßt, wohin er trat, und da ist er in die Grube gefallen. Es ist kaum Wasser drin, und er liegt einfach da unten. Er kann nicht raus.«
»Und die Seiten sind glatt und ganz gerade, sagst du?« fragte Hazel. »Also, wenn er nicht allein rauskommt, dann kriegen wir ihn auch nicht raus. Aber ich geh' mal hin und sehe nach. Blackberry, du kommst bitte mit und Fiver auch. Niemand sonst. Ich will nicht, daß ein ganzer Kaninchenhaufen den Hund wieder rauslockt.«
Die drei Kaninchen brachen auf zum Fuß des Down, liefen über das leere Getreidefeld und die Straße und stiegen vorsichtig durch die Hecke in den großen Garten. Es dauerte eine Weile, bis sie die Grube fanden, von der Crowfoot gesprochen hatte. Doch als sie endlich davorstanden, sahen sie nichts, was ihnen Zuversicht gegeben hätte. Die Grube, etwa anderthalb Meter mal einen Meter und so tief, wie ein Kälbchen hoch ist, war glatt ausbetoniert; sie sollte als Wasserreservoir dienen.
Es gab keine Stufen, die hinunterführten, aber neben ihr lag ein Eimer, der an einem Seil befestigt war. Die Sohle war gerade fingerhoch mit Wasser bedeckt, und darin lag Sandwort auf der Seite und hielt den Kopf hoch, um zu atmen. Er sah sie nicht.
Am Rand der Grube waren sie völlig ungeschützt, und sowie sie diese ungünstige Position erfaßt hatten, zogen sie sich in die Deckung nahegelegener Lorbeerbüsche zurück, um sich zu besprechen.
»Den kriegen wir niemals da raus«, sagte Blackberry. »Das schaffen wir nicht.«
»Nicht mal mit einem deiner brillanten Tricks?« fragte Hazel.
»Tut mir leid. Es gibt keinen Trick, mit dem man ihn da rausholen kann. Wenn jemand käme, um Wasser zu holen, dann würde er ihn wahrscheinlich hochziehen und dann töten, aber es wird wohl keiner kommen. Viel zu wenig Wasser da unten.«
»Dann muß er da unten bleiben und sterben?«
»Ja, ich fürchte schon. Und es wird sicher lange dauern.«
Niedergedrückt kehrten die drei Kaninchen zum Gehege zurück. Der Verlust eines Kaninchens schmerzte Hazel immer, aber zu wissen, daß Sandwort ohne die leiseste Möglichkeit einer Hilfe da unten lag und einen langsamen Tod zu gewärtigen hatte, betrübte ihn zutiefst. Die Nachricht hatte sich schnell im ganzen Gehege verbreitet, und so viele Kaninchen wollten hingehen und Sandworts elende Lage selber sehen, daß Hazel sich gezwungen sah, den Ausgang grundsätzlich zu verbieten; noch nicht einmal bis zum Eisernen Baum am Fuß des Down zu gehen, war erlaubt.
»Wir müssen ihn also einfach sterben lassen?« fragte Tindra, eines der Weibchen, die ihm nahegestanden hatten. »Und das wird lange dauern, nicht wahr?«
»Das kann wohl sein«, erwiderte Hazel. »Drei Tage, vier Tage. Ich habe so etwas noch nie erlebt, und ich habe einfach keine Ahnung.«
Den ganzen Tag über und auch den nächsten beschäftigte der Gedanke an Sandwort, der in der Grube lag, alle Kaninchen. Selbst diejenigen, die wie Silver und Bigwig allen Grund hatten, ihn nicht zu mögen, hätten ihm geholfen, sich aus seiner mißlichen Lage zu befreien, wenn sie nur gekonnt hätten.
Drei Tage verstrichen, nachdem die Nachricht im Gehege bekannt geworden war; am Nachmittag dieses Tages mißachteten Tindra und Nyreem Hazels Verbot und schlichen heimlich über den Hügelkamm und dann, in sicherer Entfernung und außer Sichtweite, den Hügel hinab. Jung und unerfahren, wie sie waren, verirrten sie sich und wanderten eine Weile orientierungslos herum, bis sie, eigentlich mehr durch Zufall, durch die Hecke stolperten und in den Garten des großen Hauses gelangten.
Sie brauchten nicht lange, um zur Grube zu kommen. Sandwort lag mit geschlossenen Augen unten im Wasser. Fliegen spazierten ihm über Lider und Ohren, doch alle paar Sekunden stiegen Bläschen hoch und zeigten an, daß er noch atmete. Etwas nasses hraka lag neben seinem Schwanz.
Die beiden Weibchen starrten hinunter. Obwohl sie wirklich nichts tun konnten, blieben sie eine Weile fasziniert, reglos und ungeschützt dort stehen, bis die Stimmen näherkommender Kinder sie aufschreckten. Sie rannten in die Lorbeerbüsche zurück, und da kamen drei, vier Kinder und brachen durch die Azaleen auf der anderen Seite der kleinen Lichtung. Ein etwa elfjähriger Junge nahm einen Anlauf und sprang über die Grube. Auf der anderen Seite hielt er inne, drehte sich um und schaute in die Grube.
»Seht mal, da unten liegt ein totes Kaninchen.«
Ein anderer Junge stellte sich neben ihn und spähte hinunter.
»Ist nicht tot.«
»Ist doch tot.«
»Ist nicht tot.«
»Doch tot.«
»Nicht tot. Paß auf, ich zeig dir's.«
Der zweite Junge stützte sich mit den Händen auf beiden Seiten ab und ließ sich hinab, bückte sich, hob das Kaninchen hoch, das schlaff in seinen Händen hing, und legte es auf den Grubenrand. Dann zog er sich wieder hoch.
»Hab' dir doch gesagt, daß es tot ist«, sagte der erste Junge.
»Glaub' ich nicht. Warte mal, ich hol mir einen Grashalm.«
»Oh, laßt das bloß liegen, ihr beiden«, rief ein älteres Mädchen, das neben den Azaleen stand, »sonst macht ihr euch noch die Hände an diesem dreckigen toten Ding schmutzig! Laß das liegen, Philip. Laßt das da, Hemmings räumt es weg, wenn ihr ihm Bescheid sagt.« Dann schrie sie mit schriller Stimme zum Haus: »Wir kommen!«
Die Jungen ließen das Kaninchen neben der Grube liegen und folgten ihr um einen Schneeballstrauch herum und an Buchsbüschen vorbei. Dann waren sie verschwunden. Kurz darauf kamen Tindra und Nyreem vorsichtig unter dem Lorbeer hervor und näherten sich dem Grubenrand.
»Sandwort!« sagte Tindra und schnüffelte am Leib des Kaninchens. »Sandwort! Er ist nicht tot«, erklärte sie Nyreem. »Er atmet, sein Blut fließt noch. Leck über seine Nase. Leck über seine Lider. Gut so!«
Die beiden Weibchen bemühten sich noch eine Weile. Schließlich hob Sandwort den Kopf leicht an und öffnete die Augen. Er versuchte ein paarmal, auf die Beine zu kommen, aber es gelang ihm nicht.