»Ich bin in Efrafra aufgewachsen; ich habe Woundwort schon früh bewundert, obwohl er damals keinen Blick für mich hatte; und nach einer Weile stellte ich fest, daß ich einer der wenigen war, die er respektierte und denen er zutraute, das zu tun, was er wollte, auch wenn er nicht selber da war - all das sind Erfahrungen, die mich zu dem gemacht haben, der ich bin - sei es gut oder schlecht. Sie haben mir Selbstvertrauen gegeben, mich befähigt, selber zu denken, in Woundworts Sinn zu denken und zu handeln, wenn er mir nicht sagen konnte, was ich tun sollte. Das war mein ganzes Leben. Und nun, da er von uns gegangen ist, kann doch niemand erwarten, daß ich seine Lehren binnen Monaten für nichtig erkläre. Natürlich weiß ich jetzt, daß alles, was er getan und gedacht hat, falsch war. Das brauche ich euch wohl nicht zu sagen.«
Er machte eine Pause, aber niemand sprach, und so fuhr er bald darauf fort:
»Die Überlebenden letzten Sommer allein zurückzubringen, vom Watership Down bis nach Efrafra - das war das Schwerste, das ich je zu tun hatte, und zwar ohne den General. Da war das letzte bißchen Kraft und alles Selbstvertrauen, das ich in mir aufbringen konnte, gefordert. Es hat mich fast umgebracht, aber als wir endlich heimgekehrt waren und ich mich erholt hatte - warum sollte ich da nicht stolz auf das sein, was ich fertiggebracht hatte? Da wußte ich endlich, wozu ich fähig war.
Aber ich zeigte es nicht. Ich dachte eigentlich, sie würden mich wohl töten, die Kaninchen, die Woundwort gehaßt hatten und die nur Vervain und Woundworts eigene Autorität bis jetzt zurückgehalten hatten. Aber sie töteten mich nicht. Sie machten mich zum Leitkaninchen. Sie brauchten mich, um für sie zu denken und zu handeln, um Woundwort Stück für Stück abzubauen und nur das von ihm zu bewahren, was nützlich war.
Und am nützlichsten erschien mir immer die Große Streife - nützlicher als alles andere zusammengenommen. Woundwort predigte immer wieder, daß Kaninchen nicht wegzulaufen brauchten; sie müßten sich auch nicht in Löchern verstecken, sie könnten die elil schlagen, wenn sie nur entschlossen und mit Selbstvertrauen kämpften. Und deswegen müßten sie lernen, wachsam, selbstbewußt, zäh und tapfer zu sein - und das lernten sie durch die Großen Streifen.
Eine Große Streife an einem sonnigen Morgen anzuführen - es gibt nichts Schöneres auf der Welt. Zu wissen, sie vertrauen dir, sie wollen mitkommen. Zu wissen, daß Gefahren drohen und trotzdem zu gehen, und dieses Gefühl vermitteln zu können. Und wenn dann wirklich Gefahren auftreten, dann trotzt man ihnen und bekämpft sie oder entkommt ihnen, indem man seinen Kopf benutzt. Und dann siehst du deine Kaninchen, die drei oder vier, die mit dir auf Streife gehen, wie sie ständig besser werden, bis sie so gut sind, daß sie selber eine Streife führen können. All das ist erfreulich, das kann ich euch versichern. Große Streifengänge erziehen jeden zum geschickten Fährtenleser, schnellen Renner und mutigen Kämpfer. Das weißt du, Groundsel. Du bist selber Offizier in Efrafra gewesen und hast so manche Streifengänge mitgemacht.«
Er machte eine Pause und schaute seine Befrager der Reihe nach an. Hazel fragte: »Kamen denn auf diesen Streifen nicht auch Kaninchen zu Tode?«
»Nicht mehr, als wir uns zu verlieren leisten konnten«, antwortete Campion. »Nachdem ich letzten Herbst zu einem einigermaßen normalen Leben zurückgekehrt war, versuchte ich, die Tradition der Großen Streifen weiterzuführen, aber niemand wollte mitkommen. Die Kaninchen sagten, sie hätten genug von >Woundworts Spinnereien<, und da mußte ich es aufgeben. Sie unter Druck zu setzen, hätte sicher mein Todesurteil besiegelt.
Aber es drängte mich, wieder eine Große Streife anzuführen, einfach zu meiner eigenen Freude. Aber allein kann man nicht auf Große Streife gehen. Ihr wüßtet das, wenn ihr's je probiert hättet. Das gegenseitige Vertrauen und die Kameradschaft fehlen.
Deshalb kam ich her. Ich wollte sehen, ob die Lage hier in Vleflain vielleicht anders wäre. Und sie war anders. Ich brauchte niemanden zu beschwatzen. Von Anfang an hatte ich Anwärter für drei, vier Streifen und sogar noch mehr. Und das meine ich, wenn ich sage, ich mache es zu meiner Freude und zu ihrem Besten. Die Kaninchen, die ich hinausgeführt habe, haben sehr viel zugelernt.«
»Aber es stimmt doch«, beharrte Hazel, »daß eine beachtliche Anzahl Kaninchen auf deinen Streifengängen getötet worden ist oder als vermißt gilt?«
»Beachtliche Anzahl würde ich nicht sagen«, entgegnete Campion. »Einige wenige ist angemessener. Und das ist der Preis, der bezahlt werden muß für das, was man gewinnt.«
»Warum hast du das nicht vorher mit mir besprochen?« fragte Groundsel. »Ich bin hier das Leitkaninchen, falls das deiner Aufmerksamkeit entgangen sein sollte.«
»Sprich nicht so mit mir«, sagte Campion aufbrausend. »Ich weiß noch, wie du ein Niemand warst. Und wenn du die Wahrheit hören willst, dann sag ich dir, ich hatte keine Lust, einen untergebenen Efrafra-Offizier um eine Gefälligkeit zu bitten.«
»Wir sind aber jetzt nicht in Efrafra«, belehrte ihn Groundsel. »Wir sind in Vleflain, und ich bin das Leitkaninchen.«
Bevor der aufgebrachte Campion antworten konnte, meldete sich Fiver zu Wort.
»Ich glaube, wir sollten eine kleine Pause machen. Würde mich gern mal mit deinem Löwenzahn beschäftigen, Groundsel. Der riecht erstklassig, besser als alles, was wir sonst auf dem Down haben. Offenbar gedeiht Löwenzahn nicht so gut auf den Downs.«
In Begleitung von Hazel ging er ein kleines Stück am Hang entlang, wo die beiden eine ganze Weile in ein ernsthaftes Gespräch vertieft waren. Als sie zu den anderen zurückkehrten, sagte Hazel sofort: »Campion-rah, willst du nicht ein Weilchen in unserem Gehege bleiben? Was hältst du davon? Du kannst sooft auf Streife gehen, wie du willst, und wir haben genug junge Kaninchen, die sich darum reißen werden, dich begleiten zu dürfen. Ich bin überzeugt, sie würden davon nur profitieren, wenn du erst einmal eingezogen bist und damit anfängst.«
Groundsel und Campion waren beide gleichermaßen verblüfft. Keiner von ihnen gab eine Antwort, und Hazel fuhr fort: »Ich kenne ein Kaninchen, das hocherfreut wäre, dich zu sehen, nämlich Bigwig. Er hat oft in den höchsten Tönen von dir gesprochen und sich immer gewünscht, dich besser kennenzulernen.«
Es war offenkundig, daß Campion der Idee nicht ablehnend gegenüberstand. Während er noch schwieg, meldete sich Fiver: »Ich bin sicher, es findet sich jemand, der sich eine Weile um Efrafra kümmert. Natürlich nicht so einer wie du, das ist klar, aber wenn es da wirklich Schwierigkeiten geben sollte, dann kannst du doch leicht in anderthalb Tage wieder dort sein. Kehaar sagt sofort Bescheid, wenn man dich dort braucht.«
»Also gut«, antwortete Campion endlich. »Ich würde sehr gern für eine gewisse Zeit kommen, und natürlich würde ich mit Wonne Bigwig Wiedersehen, diesmal als Freund. Allerdings glaube ich, daß mich eine Menge deiner Jungkaninchen vermissen werden, Groundsel, davon bin ich überzeugt.«
»Du kannst ja jederzeit eine deiner Großen Streifen hierher führen und sie Wiedersehen«, sagte Groundsel, beinahe ernsthaft. »So weit weg ist das ja wirklich nicht.«
Als Campion seinen Freunden und Verehrern in Vleflain Bescheid sagte, waren sie sehr enttäuscht. Zwei der Kaninchen, Loosestrife und Knapweed, baten Hazel, mitkommen zu dürfen, und Groundsel hatte keine Einwände.
Sie brachen am nächsten Tag auf und erreichten Watership Down ohne Feindberührung. Hyzenthlay war völlig überrascht und begrüßte Campion und seine Anhänger, und Hazel teilte ihnen einen eigenen Wohnkessel zu - übrigens den von Flyairth.
Campion fing klugerweise klein an, das heißt mit kurzen, leichten Streifengängen, die Bluebell »Hin-und-zurück« nannte. Einer seiner ersten und eifrigsten Rekruten war Sandwort, dem Campion allerdings sagte, nachdem er ihn eingeschätzt hatte, er solle sich zunächst einmal mit kleineren Aufgaben zufrieden geben. Nach einer langen und anstrengenden Streife in die Gegend westlich von Beacon Hill, berichtete Bigwig, der teilgenommen hatte, Hazel und Fiver, daß Carnpions Führungseigenschaften bewundernswert waren - besser als seine eigenen.