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Marleen:»Macht ja nichts. Hätten wir eben vor dem Tor des Aschrams gelagert, hallo rein und hallo raus.«

Cristina:»Und wären jetzt Hippiemädchen ohne Schulbildung …«

Marleen:»Nee, anders — ich meine, wir hätten Papa einfach nicht damit alleingelassen. Stell dir vor, du gehst in so eine Beten-und-Bumsen-Kommune und stolperst jeden Tag über deine Kinder.«

Cristina:»Und, was wäre dann?«

Marleen:»Dann wäre er zurückgekommen. Glaube ich.«

«Ist er ja«, sagt Cristina, während der stahlblaue Himmel ihr Gesicht eintönt, fein und kalt, die Dunkelheit ihrer Augen umso tiefer. Wenn man aussieht wie eine Madonna, denkt Marleen, ist das Schicksal vorgezeichnet. Cristina, auf dem Rücken liegend, wendet sich zur älteren Schwester, lächelt, das Lächeln misslingt.

«Er ist was?«, fragt Marleen.

Übrig bleibt ein Zucken der Lippen, und dann ist da ein Tränenbach, der herunterrinnt zu Cristinas Ohr und sich für einen Moment auf dem Ohrläppchen sammelt wie gefroren.

Marleen:»Er ist was?«

Es schüttelt die kleine Schwester, und sie wendet sich Marleen zu, die erleichtert feststellt, dass Cristina doch, anders als sie dachte, symmetrisch weint, wie es sich gehört.

«Papa.«

«Ist er nicht!«

Pause im Bericht. Cristina weint. Marleen fährt ihr mit dem kleinen Finger über die Augenbrauen. Cristina schämt sich nicht, wenn sie weint. Das war schon immer so.

Marleen versucht, die Lücke zu füllen, das riesige Luftloch zu stopfen, das sich vor ihr auftut, sie denkt: Papa lebt seit Jahren wieder in Düsseldorf, nur Johanna und Cristina wissen davon, sie besuchen ihn heimlich, sie haben ein zweites Leben. Ich und Mama voll angeschissen; aber Linus, was ist mit Linus? Unwahrscheinlich. Sie denkt: Papa war nur als Medienberater in Poona, vier Wochen wie geplant, ist aber nicht nach Düsseldorf zurückgekehrt, sondern nach München, wo er unter anderem Namen eine Filmproduktion … Und während Cristina unverständliches Zeug stammelt, spinnt sie die Luftlochgeschichten weiter. Marleen glaubt die Tränen zu riechen und die Äpfel wachsen zu hören. Schließlich beruhigt sich die Schwester und kann es erzählen.

Kaum war Marleen abgereist nach Nördlingen, schellte das Telefon.

«Cristina Schuller«

«Crissy, hier ist der Papa.«

«…«

«Sag mal, ist die Johanna da?«

«Die wohnt hier nicht mehr.«

«Ach ja, sie studiert …?«(Unangenehm ist es ihm schon.)

«Mama ist einkaufen. Linus kommt erst nachmittags aus der Schule. Marleen macht ein Praktikum in Bayern oder irgendwo.«

«Ich bin in Deutschland, Crissy.«

«Cristina.«

«Cristina.«

Am nächsten Tag nahm Cristina die Bahn zum Kölner Hauptbahnhof, ging zu Fuß zum Friesenplatz und fand in der Venloer Straße das Café wie beschrieben. Am Morgen hatte sie wachgelegen, gar nicht ihre Art, und überlegt, ob sie Mama einweihen sollte, mitnehmen vielleicht. Aber Lore Schuller saß über der Weihnachtsillu für Tschibodosen und wirkte nicht so, als dürfe ein Petrus ihr den Julitag verderben.

Im Gartenbereich eines Sannyasincafés saßen Gäste, ein Tisch war reserviert. Eine schmale Frau mit bronzenem Teint und geübter Entspanntheit fing Cristina ab, wies ihr den Stuhl an. Zwei Männer erschienen gleichzeitig. Der jüngere wischte gründlich den Tisch ab, der gar nicht dreckig war, der ältere setzte sich Cristina gegenüber. Er berührte sie nicht; er gab ihr nicht einmal die Hand. Die Frau nahm die Bestellung auf, wobei sie Petrus Schuller mit einem exotischen Namen ansprach. In der folgenden Viertelstunde fand ein lückenhaftes Gespräch statt, nur für Momente unbewacht. Petrus hatte jetzt lange Haare, graue Locken. Er deutete an, dass er den Umzug des Aschrams nach Amerika zwar noch mit vorbereitet habe, aber nicht mehr dabei sein werde.

«Ich habe hier eine Basis … Nun muss ich doch mal sehen, was mir entgangen ist … Es ist keineswegs so, dass ich meine Wurzeln vergessen hätte, im Gegenteil, ich weiß jetzt sehr viel besser, woher ich komme … Vielleicht bin ich gar nicht der Spinner, für den sie mich alle halten …«

Cristina dachte, er meint in Wirklichkeit uns. Mama. Marleen. Mich. Aber sie fand die Worte nicht, ist abgehauen.

«Du bist abgehauen?«

«Mmh.«

«Einfach so? Was hast du denn gesagt?«

«Ich hab’ …«Cristinas Stimme hört sich an wie Frosch-im-Teich.

«Du hast was?«

«Ich hab’ nach der Toilette gefragt. Diese Frau hat mich mit reingenommen, das Klo war im Keller, hinter der Garderobe oder so ’ner Trennwand ging die Treppe runter. Als ich wieder oben war, bin ich zur Vordertür raus, ich hab’ mich nicht mal mehr umgesehen.«

Cristina hat sich beruhigt. Marleen ordnet der Schwester das Haar. Sie wartet. Sie wartet eigentlich schon, seit Cristina angekommen ist. Die Jüngere trägt ihre Geheimnisse wie eine Fratze. Sie ist nicht dafür gemacht, etwas zu verbergen.

«Das sind diese Kontrollniks. Die wollten euch nicht unter vier Augen sprechen …«

«Augen!«

Cristina schüttelt es.

«Dgantzeit hat er dieS …«

«Cristina, ich versteh’ dich nicht.«

«… hat er die bscheurte Sonn …«

«… die Sonn?«

«Die Sonnenbrille nicht abgenommen. Nicht für einen Moment.«

Tränen über Tränen, das tut der Apfelbaumwiese gut und Cristina auch, die nun ganz weich wird unter Marleens Händen, ein warmer Puschel wie früher. So ein Schwein, denkt Marleen. So ein Schwein.

Die andere Hälfte wird auf der Rückfahrt berichtet, die beiden Fahrräder nebeneinander auf der Landstraße. Am Tag nach Köln hatte sich Cristina auf eine Party selbst eingeladen, die zugleich ein Geburtstag war — Franz-Josefs — und ein weiteres Abiturbesäufnis von Marleens Jahrgang, ein großes, weißes Haus in Meerbusch, die Eltern in der Provence, Nico und Harald abwechselnd am Plattenteller: Bowie, Talking Heads, Police und alle zwei Stunden Dancing Queen, aber nur um jene Jungs auf die Palme zu bringen, die am liebsten Holger Czukay gehört hätten; ein unverschlossener Weinkeller; die Zimmer der fortgezogenen Töchter, drei Betten. Zwischen Mitternacht und Dämmerung ist Cristina alles egal gewesen — oder es kam genau drauf an, schwer zu sagen —, jedenfalls war Wölfi der Erste, der in ihre schwarze Seele blickte und den Augenblick zu nutzen verstand.

«Wölfi!«, ruft Marleen.

«Findste wahrscheinlich voll übel.«

«Kann er’s wenigstens inzwischen?«

Das große Gelächter der Schwestern hallte noch lange von der Stadtmauer wider. So ging der Sonntag zu Ende. Am Montagmorgen besichtigte Cristina die Druckerei, eher aus Höflichkeit, bevor sie in Richtung Bahnhof verschwand; am Dienstag gegen Mittag nahm Volpe Marleen beiseite:

«Hören Sie, Fräulein …«

«… Schuller …«

«Nein, ich weiß schon …«

«Mar-leen

Volpe grinste, als hätte sie Geneviève gesagt.

«Marleen, es gibt Business in Mailand. Ich hätte gern, dass sich jemand mit mir umschaut und auch mitschreibt. Könnten Sie Ihre Aufgaben hier für drei Tage ruhen lassen? Zum Wochenende sind wir wieder da.«

«Moment«, sagte Marleen.

Sie suchte Steidle, der den Braten schon gerochen hatte und sich in der Pausenklause der Drucker versteckt hielt, vorgeblich etwas suchend. Er bemühte sich sehr, kein Bedauern zu zeigen; eine gewisse Traurigkeit war ihm in die Augen geschrieben; sehr ungern hörte Marleen ihn bekräftigen, dass sie abkömmlich sei. Wobei sie plötzlich merkte, was sie wollte, nämlich unentbehrlich werden. Aber Volpe zu brüskieren konnte auch nicht richtig sein. Außerdem: Mailand.

«Es ist möglich«, sagte sie zu Volpe, der gerade einem Setzer über die Schulter sah, als sie zurückkam. Marleen machte sich mit dem Fahrrad davon. Eine Dreiviertelstunde später hielt der Rover vor dem Haus mit der Einliegerwohnung. Der olle blaue Koffer wurde eingeladen, recht plump neben Volpes Pilotencase mit doppeltem Zahlenschloss in Messing.