Die Ratte stieg ein wenig geziert in die schmutzige Hand des Lords, und der Mann hielt sie respektvoll vor Richards Gesicht. Träge bewegte sie ihren Schwanz.
»Das ist Master Longtail, vom Clan der Greys«, sagte Lord Rattensprecher. »Er sagt, du kämst ihm überaus bekannt vor. Er möchte wissen, ob ihr euch schon einmal begegnet seid.« Richard sah die Ratte an. Die Ratte sah Richard an. »Kann schon sein«, räumte er ein.
»Er sagt, er sei dabei einer Verpflichtung dem Marquis de Carabas gegenüber nachgekommen.«
Richard sah sie sich aus der Nähe an. »Die Ratte ist das? Ja, wir sind uns schon mal begegnet. Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe mit der Fernbedienung nach ihr geworfen.«
Die Menschen, die um ihn herumstanden, sahen schockiert aus. Das dünne Mädchen quiekte sogar. Richard nahm das kaum wahr; wenigstens auf etwas Vertrautes war er in diesem Irrenhaus gestoßen.
»Hallo, Ratty«, sagte er. »Schön, dich wiederzusehen. Weißt du, wo Door ist?«
»Ratty!« machte das Mädchen. Es hörte sich an wie ein Mittelding zwischen einem Quietschen und einem entsetzten Schlucken. An ihren zerlumpten Sachen steckte ein kleines wasserfleckiges rotes Badge. Darauf stand in gelben Buchstaben Ich bin 11.
Lord Rattensprecher schwenkte mahnend seinen Glasdolch vor Richards Nase. »Du darfst nur durch mich zu Master Longtail sprechen«, sagte er.
Die Ratte quiekte einen Befehl. Der Mann machte ein langes Gesicht.
»Der?« fragte er und warf Richard einen geringschätzigen Blick zu. »Hören Sie, ich kann keine Menschenseele entbehren. Warum darf ich ihm nicht einfach die Kehle durchschneiden und ihn runter zu den Sielmenschen schicken …«
Die Ratte keckerte noch einmal nachdrücklich, sprang dann von der Schulter des Mannes zu Boden und verschwand in einem der vielen Löcher, die die Wände säumten.
Lord Rattensprecher stand auf.
Hundert Augen ruhten auf ihm. Er wandte sich zum Saal um und sah all die anderen an, die neben ihren fettigen Feuerstellen kauerten.
»Ich weiß nicht, was es hier zu gaffen gibt«, brüllte er. »Wer dreht denn jetzt die Spieße, he? Wollt ihr, daß der Fraß verbrennt? Es gibt hier nichts zu sehen. Macht weiter. Seht zu, daß ihr Land gewinnt.«
Richard richtete sich nervös auf.
Lord Rattensprecher sah Iliaster an. »Er muß zum Markt gebracht werden. Befehl von Master Longtail.«
Iliaster schüttelte den Kopf und spuckte auf den Boden. »Also, ich bringe ihn nicht hin«, sagte er. »Ich setz’ doch nicht für so eine Reise mein Leben aufs Spiel. Ihr Rattensprecher wart immer gut zu mir, aber dort kann ich nicht hingehen. Das wissen Sie.«
Lord Rattensprecher nickte. Er steckte seinen Dolch weg.
Dann lächelte er Richard mit schlechten Zähnen an. »Du weißt gar nicht, was für ein Glück du gerade gehabt hast«, sagte er.
»Doch«, sagte Richard. »Allerdings.«
»Nein«, sagte der Mann. »Keineswegs.« Und er schüttelte den Kopf und sagte zu sich selbst: »Ratty!«
Lord Rattensprecher nahm Iliaster am Arm, und die beiden gingen außer Hörweite und tuschelten miteinander, wobei sie Richard durchdringende Blicke zuwarfen.
Das dünne Mädchen verschlang eine von Richards Bananen, in der, so schoß es Richard durch den Kopf, unerotischsten Art und Weise, die er je gesehen hatte.
»Hör mal, das sollte mein Frühstück werden«, sagte Richard. Das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Ich heiße Richard. Und du?«
Das Mädchen, dem es, wie er feststellte, bereits gelungen war, den Großteil des Obstes aufzuessen, das Richard mitgenommen hatte, sah ihn verlegen an. Dann lächelte es ein wenig schief und sagte etwas, das so ähnlich klang wie Anaesthesia. »Ich hatte Hunger«, sagte sie.
»Tja, ich auch«, erwiderte er.
Sie warf einen Blick auf die Feuerchen an der gegenüberliegenden Seite des Raums. Dann sah sie Richard wieder an.
»Magst du Katze?« fragte sie.
»Ja«, sagte Richard. »Katzen mag ich ganz gern.«
Anaesthesia wirkte erleichtert. »Bein?« fragte sie. »Oder Brust?«
Das Mädchen namens Door ging den Hof entlang, gefolgt vom Marquis de Carabas.
Es gab in London hundert weitere kleine Höfe und Twieten und Gassen wie diese, winzige Ausläufer der alten Zeiten, seit dreihundert Jahren unverändert. Selbst der Uringestank hier war derselbe wie zu Pepys’ Zeiten.
Bis zum Sonnenaufgang würde es noch eine Stunde dauern, doch der Himmel begann bereits, heller zu werden und eine stumpfe graue Farbe anzunehmen.
Die Tür war nachlässig mit Brettern vernagelt und klebte voller fleckiger Plakate für vergessene Bands und längst geschlossene Clubs.
Sie blieben vor der Tür stehen, und der Marquis beäugte all die Bretter und Nägel und Poster, und es ließ ihn offenbar kalt. »Dies ist also der Eingang?« fragte er.
Sie nickte. »Einer.«
Er verschränkte die Arme. »Und nun? Sagen Sie ›Sesam öffne dich‹, oder was immer Sie sonst zu tun pflegen. «
»Ich will das nicht«, sagte sie. »Ich weiß wirklich nicht, ob wir das richtig machen.«
»Auch gut«, er ließ die Arme sinken und verneigte sich vor ihr. »Auf bald.«
Er begann, den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurückzugehen. Door packte ihn am Arm. »Sie würden mich im Stich lassen?« fragte sie. »Einfach so?«
Er grinste kalt. »Sicher. Ich bin ein sehr beschäftigter Mann. Es gibt Dinge zu treffen. Leute zu tun.«
»Moment mal, warten Sie.« Sie ließ seinen Ärmel los und biß sich auf die Unterlippe. »Das letzte Mal, als ich hier war …« Ihre Stimme erstarb.
»Das letzte Mal, als Sie hier waren, haben Sie Ihre Familie tot aufgefunden. Das ist es doch. Weitere Erklärungen können Sie sich sparen. Wenn wir nicht hineingehen, ist unsere Geschäftsbeziehung beendet.«
Sie sah zu ihm auf. Ihr Gesicht war blaß im frühmorgendlichen Licht. »Und das ist alles?«
»Ich könnte Ihnen viel Glück für Ihre zukünftige Laufbahn wünschen, doch ich möchte bezweifeln, daß Sie dafür noch lange genug leben werden.«
»Sie sind ein ziemlicher Stinkstiefel, was?«
Er sagte nichts.
Sie ging zurück zur Tür. »Na gut«, sagte sie. »Kommen Sie. Ich mache uns auf.«
Door legte ihre linke Hand an die vernagelte Tür, und mit der rechten nahm sie die riesige braune Hand des Marquis. Ihre kleinen Finger umschlangen seine großen. Sie schloß die Augen.
… etwas wisperte und erschauerte und verwandelte sich …
… und die Tür zerfiel zu Dunkelheit …
Die Erinnerung war frisch, erst ein paar Tage alt. Door ging durch das Haus Ohne Türen und rief: »Ich bin wieder da!« und »Hallo?« Sie schlüpfte vom Vorzimmer ins Eßzimmer, in die Bibliothek, in den Salon; niemand antwortete. Es war niemand da. Sie betrat einen anderen Raum.
Das Schwimmbad war ein viktorianisches Gebäude aus Marmor und Gußeisen. Ihr Vater hatte es gefunden, als er noch jung war. Es stand leer und sollte abgerissen werden, und er hatte es in die Materie des Hauses Ohne Türen eingewoben.
Door hatte keine Ahnung, wo die Räume ihres Hauses sich tatsächlich befanden. Ihr Großvater hatte es gebaut, indem er hier ein Zimmer und dort ein Zimmer zusammengesucht hatte, überall in London, diskret und türlos.
Sie ging an dem alten Schwimmbecken entlang, froh, wieder zu Hause zu sein. Und dann schaute sie nach unten.
Es trieb jemand im Wasser. Er zog zwei Blutwolken hinter sich her, eine aus der Kehle und eine aus dem Unterleib. Es war ihr Bruder, Arch. Seine Augen waren weit geöffnet und blicklos.
Sie merkte, daß ihr Mund offenstand. Sie hörte sich schreien.