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Er gehorchte.

Sie legte ihre alte Hand in seine und blinzelte ein paarmal, wie eine alte Eule, die eine Maus verschluckt hat und nun Verdauungsbeschwerden bekommt.

»Du hast einen weiten Weg vor dir …«, sagte sie.

»London«, sagte Richard.

»Nicht nur London…« Sie zögerte. »Nicht das London, das ich kenne.«

Es begann zu regnen.

»Tut mir leid«, sagte die alte Frau. »Mit Türen fängt es an.«

»Türen?«

Sie nickte. Der Regen wurde stärker. »Ich an deiner Stelle würde auf Türen achten.«

Richard stand ein wenig schwankend auf. »Ist gut«, sagte er, etwas unsicher, wie man mit einer solchen Information umzugehen habe. »Mach’ ich. Danke.«

Die Tür des Pubs ging auf, und Licht und Lärm schwappten auf die Straße.

»Richard? Alles in Ordnung?«

»Ja, mir geht’s gut. Bin gleich wieder da.«

Die alte Dame wackelte schon wieder die Straße hinunter. Sie wurde naß.

Richard hatte das Gefühl, er müsse etwas für sie tun: Geld konnte er ihr jedoch keins geben. Er eilte ihr nach. »Hier!« sagte er. Er fingerte an dem Schirm herum, um den Knopf zum Öffnen zu finden. Dann ein Klick, und der Regenschirm erblühte zu einem riesigen U-Bahn-Plan.

Die alte Frau nahm ihn entgegen. Sie nickte.

»Du hast ein gutes Herz. Manchmal reicht das, um einen zu beschützen, wo man auch hingeht.« Dann schüttelte sie den Kopf. »Aber meistens nicht.«

Ein Windstoß drohte ihr den Schirm zu entreißen, doch sie hielt ihn fest. Sie schlang ihre Arme darum. Dann ging sie in den Regen und die Nacht hinaus, eine weiße Gestalt, bedeckt mit den Namen von U-Bahnhöfen: Earl’s Court, Marble Arch, Blackfriars, White City, Victoria, Angel, Oxford Circus …

Richard ertappte sich dabei, wie er in seinem Suff darüber nachdachte, ob es am Oxford Circus wohl wirklich einen Zirkus gab: einen echten Zirkus mit Clowns und schönen Frauen und gefährlichen Tieren.

Die Tür des Pubs öffnete sich: ein Lärmschwall, als sei drinnen gerade die Lautstärke aufgedreht worden.

»Richard, du Wichser, das ist deine Scheißparty, und du verpaßt alles.«

Er ging zurück in den Pub. Der Drang, sich zu übergeben, hatte sich in Anbetracht der seltsamen Begegnung verflüchtigt.

»Du siehst aus wie eine ersoffene Ratte«, sagte jemand.

»Du hast doch noch nie eine ersoffene Ratte gesehen«, erwiderte Richard.

Jemand anders reichte ihm einen großen Whisky. »Hier, runter damit. In London kriegst du nämlich keinen echten Scotch.«

»Doch, bestimmt«, seufzte Richard. Wasser tropfte ihm aus den Haaren in den Drink. »In London gibt es alles.«

Und er stürzte den Scotch hinunter, und dann noch einen, und dann verschwamm der Abend und zersplitterte in Bruchstücke; und hinterher erinnerte er sich nur noch an das Gefühl, daß er etwas, das Sinn machte, für etwas Riesengroßes und Altes verließ, das keinen Sinn machte, und daran, daß er endlos lange in einen Rinnstein voller Regenwasser kotzte, irgendwo kurz vor Morgengrauen, und daran, wie eine weiße Gestalt, eine Art kleiner, runder Käfer, sich im Regen von ihm entfernte.

Am nächsten Morgen stieg Richard in den Zug nach London, Euston. Seine Mutter gab ihm einen kleinen Kuchen mit, den sie für die Reise gebacken hatte, und eine Thermosflasche voll Tee; und Richard Mayhew fuhr nach London und fühlte sich grauenhaft.

Noch ein Prolog

Vierhundert Jahre früher

Es war Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, und es regnete in der Toskana: ein kalter, gemeiner Regen, der die Welt grau färbte.

Ein Schmutzfleck schwarzen Qualms stieg von dem kleinen Kloster auf dem Berg in den frühmorgendlichen Himmel auf.

Zwei Männer saßen auf dem Berg und sahen zu, wie das Gebäude zu brennen anfing.

»Das, Mister Vandemar«, sagte der kleinere von beiden und deutete mit einer schmierigen Hand auf den Qualm, »wird eine ausgemacht feine Konflagration, wenn es erst mal richtig zu konflagrieren anfängt. Obwohl ich mich als wahrheitsliebendes Individuum genötigt sehe, Zweifel daran zu äußern, daß noch irgendeiner der Bewohner in der Lage sein wird, dies voll und ganz zu würdigen.«

»Weil sie dann tot sind, meinen Sie, Mister Croup?« fragte sein Begleiter. Er aß etwas, das aussah, als wäre es mal ein junger Hund gewesen. Mit seinem Messer schnitt er große Fleischfetzen von den Knochen und steckte sie sich in den Mund.

»Weil, wie Sie so klug erkannt haben, erlauchter Freund, sie dann tot sind.«

Und so kann man die beiden Sprecher unterscheiden: Erstens ist Mr. Vandemar, wenn beide stehen, zweieinhalb Köpfe größer als Mr. Croup.

Zweitens sind Mr. Croups Augen von einem verblichenen Chinablau, während Mr. Vandemars Augen braun sind.

Drittens trägt Mr. Vandemar an seiner rechten Hand Ringe, die er aus den Schädeln von vier großen Raben gefertigt hat, Mr. Croup hingegen trägt keinen sichtbaren Schmuck.

Viertens mag Mr. Croup Wörter, während Mr. Vandemar immer hungrig ist.

Das Kloster ging mit einem lauten Fauchen in Flammen auf: Es konflagrierte.

»Lauch mag ich nicht«, sagte Mr. Vandemar. »Schmeckt fade.«

Jemand schrie, dann rumpelte es laut, als das Dach einstürzte, und donnernd schlugen die Flammen in die Höhe.

»Da war jemand nicht tot«, sagte Mr. Croup.

»Ist es aber jetzt«, sagte Mr. Vandemar, und er aß noch ein Stück rohen Hund. Er hatte sein Mittagessen auf dem Weg vom Kloster tot in einem Graben gefunden. Das sechzehnte Jahrhundert gefiel ihm.

»Was jetzt?« fragte er.

Grinsend entblößte Mr. Croup Zähne, die wie ein Unfall auf einem Friedhof aussahen. »Heute in etwa vierhundert Jahren«, sagte er. »In Unter-London.«

Mr. Vandemar verdaute dies zusammen mit ein wenig Hund. Schließlich fragte er: »Leute umbringen?«

»Oh ja«, sagte Mr. Croup. »Darauf können Sie Gift nehmen. «

Kapitel Eins

Sie war jetzt vier Tage lang gerannt, planlos durch Gänge und Tunnel geflohen. Sie war hungrig und erschöpft, und die Türen ließen sich immer schwerer öffnen.

Sie fand ein Versteck, eine winzige steinerne Höhle unter der Welt, in der sie in Sicherheit war, zumindest betete sie darum, und endlich schlief sie.

Mr. Croup hatte Ross auf dem letzten Wandermarkt engagiert, der in der Westminster Abbey abgehalten wurde. »Betrachten Sie ihn«, sagte er zu Mr. Vandemar, »als Kanarienvogel. «

»Singt er?« fragte Mr. Vandemar. »Da habe ich meine Zweifel, da habe ich allergrößte Zweifel. Nein, mein feiner Freund, das war metaphorisch gemeint: Ich dachte eher an die Vögel, die man mit ins Bergwerk nimmt, um das Gas zu bemerken.«

Vandemar nickte.

Abgesehen davon hatte Mr. Ross keine Ähnlichkeit mit einem Kanarienvogeclass="underline" Er war riesengroß – fast so groß wie Mr. Vandemar – und schmutzig, und er sagte sehr wenig, hatte ihnen jedoch ausdrücklich erklärt, daß er gern töte und diese seine Sache gut mache; und darüber amüsierten sich Mr. Croup und Mr. Vandemar, wie etwa Dschingis-Khan sich über das Geprahle eines jungen Mongolen amüsiert haben mag, der gerade sein erstes Dorf geplündert oder seine erste Jurte in Brand gesteckt hatte. Er war ein Kanarienvogel, ohne es zu wissen. Mr. Ross ging also voran, in seinem dreckigen T-Shirt und seinen verkrusteten Jeans, und Croup und Vandemar folgten ihm in ihren eleganten schwarzen Anzügen.

Es raschelte in der Dunkelheit des Tunnels; Mr. Vandemars Messer war in seiner Hand, und dann war es nicht mehr in seiner Hand, sondern zitterte leise in fast zehn Meter Entfernung.

Er ging hinüber und hob es auf. Die Klinge hatte eine Ratte durchbohrt. Ihr Maul öffnete und schloß sich hilflos, während sie ihr Leben aushauchte. Er zerquetschte ihren Schädel zwischen Daumen und Finger.