Das taten sie. Die Wachen waren zwar beide schon jenseits der Sechzig, doch als sie mit der Armbrust auf den Marquis zielten, zitterten ihre Hände nicht, weder vor Alter noch vor Angst.
Richard sah Hunter an. Sie wirkte völlig gelassen: Sie betrachtete die Szene beinahe amüsiert, wie ein Theaterstück, das ihr zuliebe aufgeführt wurde.
Door verschränkte die Arme und reckte sich, legte den Kopf zurück und hob ihr spitzes Kinn. Jetzt sah sie nicht mehr so sehr wie ein zerlumpter Straßenkobold aus, sondern eher wie jemand, der es gewohnt ist, sich durchzusetzen. Die seltsam gefärbten Augen blitzten. »Euer Gnaden, der Marquis begleitet mich auf meiner Suche. Unsere Familien sind seit langem befreundet – «
»Ja. Das stimmt«, unterbrach sie der Earl zuvorkommend. »Hunderte von Jahren. Hunderte und Aberhunderte. Ich kannte schon Euren Großvater. Ein komischer alter Kauz. Bißchen undurchsichtig.«
»Aber ich muß Euch sagen, daß ich in einem gewaltsamen Vorgehen gegen meinen Begleiter einen Angriff auf mich und mein Haus sehe.« Das Mädchen starrte zu dem alten Mann empor, der über ihm in die Höhe ragte. Einen Moment lang standen sie stocksteif da. Er zupfte erregt an seinem rotgrauen Bart. Dann schob er die Unterlippe vor wie ein kleines Kind. »Ich will ihn hier nicht haben«, sagte er.
Der Marquis zog die goldene Taschenuhr hervor, die er in Porticos Arbeitszimmer gefunden hatte. Lässig warf er einen Blick darauf. Dann wandte er sich an Door, als ob nichts geschehen wäre. »Mylady«, sagte er, »offenbar bin ich Ihnen eher von Nutzen, wenn ich diesen Zug verlasse. Außerdem muß ich noch andere Avenuen erkunden.«
»Nein«, sagte sie. »Wenn Sie gehen, gehen wir alle.«
»Lieber nicht«, sagte der Marquis. »Hunter wird sich um Sie kümmern, solange Sie sich in Unter-London aufhalten. Wir treffen uns auf dem nächsten Markt. Machen Sie in der Zwischenzeit keine Dummheiten.«
Der Zug hielt an einer Haltestelle.
Door fixierte den Earclass="underline" riesige, seltsam gefärbte Augen in einem blassen, herzförmigen Gesicht: »Werdet Ihr ihn in Frieden gehen lassen, Euer Gnaden?« fragte sie.
Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, rieb sich das gesunde Auge und seine Augenklappe und sah sie dann wieder an.
»Hauptsache, er geht«, sagte der Earl. »Das nächste Mal … «, er fuhr sich mit einem dicken alten Finger über den Adamsapfel, »...Bückling.«
»Ich finde allein hinaus«, sagte der Marquis zu den Wachen und ging auf die offene Tür zu.
Halvard hob seine Armbrust und zielte auf den Rücken des Marquis. Hunter streckte die Hand aus und drückte das Ende der Armbrust wieder in Richtung Fußboden.
Der Marquis trat auf den Bahnsteig, drehte sich um und winkte ihnen zum Abschied ironisch zu. Zischend schloß sich die Tür hinter ihm.
Der Earl setzte sich in seinen riesigen Sessel am Ende des Waggons. Er sagte nichts.
Der Zug ratterte und schlingerte durch den dunklen Tunnel. »Wo sind bloß meine Manieren?« murmelte der Earl vor sich hin. Er schaute sie mit einem weitaufgerissenen Auge an. Dann sagte er es noch einmal, mit einem verzweifelten Dröhnen in der Stimme, das Richard wie den Beat einer Bass-drum im Magen spürte. »WO SIND BLOSS MEINE MANIEREN?«
Er winkte einen der ältlichen Ritter zu sich. »Sie werden hungrig sein nach der Reise, Dagvard. Und auch durstig, möcht’ ich meinen.«
»Ja, Euer Gnaden.«
»Haltet den Zug an!« rief der Earl.
Die Türen öffneten sich zischend, und Dagvard trippelte eilig auf einen Bahnsteig hinaus.
Richard beobachtete die Menschen dort draußen. Niemand kam in ihren Wagen. Niemand schien etwas Ungewöhnliches zu bemerken.
Dagvard ging zu einem Süßigkeitenautomaten. Er nahm den Helm ab. Dann klopfte er mit einem Kettenhandschuh seitlich an den Automaten.
»Befehl vom Earl«, sagte er. »Schokolade.«
Es ratschte und surrte tief in den Eingeweiden der Maschine, und sie begann, Dutzende Trauben-Nuß-Schokoriegel auszuspucken, einen nach dem anderen. Dagvard fing sie in seinem Metallhelm auf.
Die Türen begannen sich zu schließen. Halvard steckte den Griff seiner Pike dazwischen, und sie öffneten sich und begannen, sich immer wieder zu öffnen und zu schließen und dabei gegen den Pikengriff zu knallen.
»Bitte bleiben Sie von den Türen zurück«, sagte eine Lautsprecherstimme. »Der Zug kann erst abfahren, wenn alle Türen geschlossen sind.«
Der Earl glotzte Door mit seinem gesunden Auge schief an. »Nun. Was bringt Euch zu mir?«
Sie leckte sich die Lippen. »Also, indirekt, Euer Gnaden, der Tod meines Vaters.«
Er nickte langsam. »Ja. Ihr wollt Rache. Und das zu Recht.« Er hustete und rezitierte dann in einem basso profundo: »Bietet blitzenden Klingen die Stirn, laßt aufleuchten das wilde Feuer, senkt das eiserne Schwert ins verhaßte Herz, glutrot das … das … Dingsda. Ja.«
»Rache? Ja. Das hat mein Vater auch gesagt. Aber ich will nur verstehen, was passiert ist, und mich selbst schützen. Meine Familie hatte keine Feinde.«
Da torkelte Dagvard wieder in den Zug, den Helm voller Schokoriegel und Coladosen; die Türen konnten sich schließen, und der Zug fuhr wieder los.
Der Mantel war über und über mit Münzen und Scheinen bedeckt – und Schuhen. Schuhen an Füßen, die die Münzen traten, die Banknoten beschmierten und zerrissen und den Mantelstoff zerfetzten. Geld wie Dreck.
»Laßt mich in Ruh’«, bettelte Lear. Er stand mit dem Rücken an der Wand der Unterführung. Blut lief über sein Gesicht und tropfte hellrot in seinen Bart. Sein Saxophon hing schlaff und verdreht auf seiner Brust.
Er war von einer kleinen Menschenmenge umringt – mehr als zwanzig, weniger als fünfzig. Alle drängelten und schubsten, ein hirnloser Mob, die Augen leer und starr, der, verzweifelt um sich schlagend und kratzend, versuchte, Lear Geld zu geben.
An der gekachelten Wand war Blut, dort, wo Lear sich den Kopf aufgeschlagen hatte. Armrudernd wehrte er eine Frau mittleren Alters ab, die ihm mit weit geöffneter Handtasche eine Faust voll Fünf-Pfund-Noten entgegenstieß. In ihrem Eifer, ihm ihr Geld zu geben, drohte sie ihm das Gesicht zu zerkratzen. Er wand sich, um ihr auszuweichen, und stürzte auf den Tunnelboden.
Jemand trat auf seine Hand. Sein Gesicht wurde in eine Brühe von Kleingeld gestoßen. Er begann zu schluchzen und zu fluchen.
»Ich hab’ Ihnen doch gesagt, Sie sollen’s nicht übertreiben«, sagte dicht neben ihm eine elegante Stimme. »Wie ungezogen.«
»Helfen Sie mir«, keuchte Lear. »Nun ja, es gibt tatsächlich einen Gegenzauber«, gestand die Stimme beinahe widerstrebend.
Die Menge drängelte sich jetzt noch näher heran. Ein Fünfzig-Pence-Stück, das jemand geworfen hatte, schlitzte Lear die Wange auf. Er rollte sich wie ein Fötus zu einer Kugel zusammen, schlang die Arme um sich, vergrub sein Gesicht zwischen den Knien.
»Spielen Sie es, verdammt noch mal«, sagte er. »Egal, was Sie wollen … Machen Sie bloß, daß sie aufhören …«
Eine Flöte begann leise zu spielen und hallte durch die Unterführung. Eine einfache Melodielinie, immer wieder von vorn, jedesmal ein wenig anders: die de-Carabas-Variationen.
Die Schritte entfernten sich. Erst schlurfend, dann immer schneller: Bald waren sie fort. Lear öffnete die Augen.
Der Marquis de Carabas lehnte an der Wand und spielte auf der Flöte. Als er sah, daß Lear ihn anschaute, setzte er die Flöte ab und steckte sie wieder in eine Innentasche. Er warf Lear ein spitzengesäumtes Taschentuch aus geflicktem Leinen zu. Lear wischte sich das Blut von der Stirn und aus dem Gesicht.
»Die hätten mich umgebracht«, sagte er vorwurfsvoll.
»Ich habe Sie gewarnt«, sagte de Carabas. »Sie können von Glück sagen, daß ich auf dem Rückweg wieder hier entlanggekommen bin.«