Door nickte. Sie schaute sich um.
»Offenbar folgen sie uns nicht«, sagte sie. Sie eilten zum Haupteingang.
»Fehlt dir etwas?« fragte Richard. »Was ist passiert?«
Door verkroch sich tief in ihrer Lederjacke. Sie sah blaß aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen.
»Ich bin müde«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Hab’ heute zu viele Türen geöffnet. Das zehrt an meinen Kräften. Ich brauche ein wenig Zeit, um mich zu erholen. Wenn ich etwas zu essen kriege, geht’s mir wieder gut.«
An der Tür stand ein Wachmann, der penibel die geprägten Einladungen überprüfte, die all die gutrasierten Männer im Smoking und all die parfümierten Frauen im Abendkleid vorzeigen mußten, und ihre Namen dann auf einer Liste abhakte, bevor sie eintreten durften. Ein uniformierter Polizist musterte die Gäste unbarmherzig.
Richard und Door gingen durch das Tor, und niemand würdigte sie eines Blickes. Auf den Steinstufen, die zu den Museumstüren hinaufführten, standen die Menschen Schlange, und Richard und Door reihten sich ein. Ein weißhaariger Mann in Begleitung einer Frau, die mutig einen Nerzmantel trug, stellte sich unmittelbar hinter ihnen an.
Richard kam ein Gedanke. »Können die uns wohl sehen? « fragte er.
Door drehte sich zu dem Herrn um. Sie blickte zu ihm hoch. »Hallo«, sagte sie.
Der Mann sah sich mit einem fragenden Gesichtsausdruck um, als wüßte er nicht genau, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Dann fiel sein Blick auf Door, die direkt vor ihm stand. »Hallo …?« sagte er.
»Ich bin Door«, erklärte sie. »Das ist Richard.«
»Ach … «, erwiderte er. Dann wühlte er in einer Innentasche, zog ein Zigarrenetui hervor und vergaß sie einfach wieder.
»Na also. Verstehst du?« fragte Door.
»Ich glaube ja«, antwortete Richard.
Eine Zeitlang sagten sie nichts, während sich die Schlange langsam auf die einzige offene Tür des Museums zubewegte. Door schaute irgend etwas auf ihrer Schriftrolle nach. Dann sagte Richard: »Ein Verräter?«
»Die haben uns bloß aufgezogen«, sagte Door. »Wollten uns beunruhigen.«
»Das ist ihnen auch verdammt gut gelungen«, erwiderte Richard. Und sie gingen durch die offene Tür, und dann waren sie im British Museum.
Da Mr. Vandemar Hunger hatte, überquerten sie auf dem Rückweg den Trafalgar Square.
»Ihr Angst machen«, murmelte Mr. Croup angewidert. »Ihr Angst machen. Daß es so weit mit uns kommen mußte. «
Mr. Vandemar hatte ein halbes Sandwich mit Krabben und Kopfsalat in einem Mülleimer gefunden und riß es vorsichtig in kleine Stücke, die er auf die Platten vor sich warf und damit einen kleinen Schwarm hungriger nächtlicher Tauben anlockte.
»Hätte lieber tun sollen, was ich ursprünglich vorhatte«, sagte Mr. Vandemar. »Hätte ihr viel mehr Angst gemacht, wenn ich ihm hinter ihrem Rücken den Kopf abgerissen, meine Hand durch seine Kehle gesteckt und die Finger bewegt hätte. Gibt immer ein großes Geschrei«, verriet er, »wenn die Augäpfel rausfallen.«
Zur Demonstration bohrte er die Finger in die Luft und bewegte sie hin und her.
Mr. Croup war keineswegs einverstanden. »Warum gerade jetzt so zimperlich?« fragte er.
»Ich bin nicht zimperlich, Mister Croup«, sagte Mr. Vandemar. »Es gefällt mir, wenn die Augäpfel herausfallen. Die lustigen kleinen Guckerchen.«
Immer mehr graue Tauben, die eigentlich längst ins Bett gehörten, stolzierten herüber, pickten an den Brotkrumen und Krabben herum und verschmähten den Kopfsalat.
»Nicht Sie«, sagte Mr. Croup. »Der Chef. Erst sollen wir sie töten, dann entführen, dann ihr Angst machen. Was will er denn nun?«
Von Mr. Vandemars Sandwich war nichts mehr übrig, und so stürzte er sich auf den Schwarm Tauben, die mit ein paar klickenden Geräuschen und vereinzeltem nörgelndem Gurren aufflogen.
»Gut gefangen, Mister Vandemar«, sagte Mr. Croup anerkennend.
Mr. Croup hielt eine verblüffte und beunruhigte Taube in der Hand, die sich murrend in seinem Griff wand und fruchtlos auf seine Finger einpickte.
Mr. Croup seufzte dramatisch. »Na ja, wie auch immer. Jetzt haben wir jedenfalls die Katze in den Taubenschlag gesetzt«, sagte er genüßlich.
Mr. Vandemar hielt sich die Taube vors Gesicht. Es knirschte, als er ihr den Kopf abbiß und zu kauen begann.
Das Wachpersonal dirigierte die Museumsgäste in einen Korridor, der offenbar als eine Art Warteraum fungierte. Door beachtete die Wärter gar nicht und marschierte mit Richard im Schlepptau schnurstracks zu den Ausstellungsräumen.
Sie gingen durch die ägyptische Abteilung, ein paar Treppen hoch und in einen Saal, der laut Beschilderung zur frühenglischen Abteilung gehörte.
»Dieser Schriftrolle zufolge«, sagte sie, »geht es hier durch direkt zum Angelus.«
Door blickte auf ihre Schriftrolle. Sah sich im Raum um. Zog ein Gesicht. »Tch«, seufzte sie und lief wieder die Treppen hinunter, auf dem gleichen Weg, den sie gekommen waren. Richard war der Meinung, er habe gerade ein intensives Déjà-vu-Erlebnis, bis ihm klar wurde, daß ihm all dies natürlich vertraut war: So hatte er früher seine Wochenenden verbracht, als er noch mit Jessica zusammen war. Was ihm bereits langsam wie etwas vorkam, das vor langer, langer Zeit jemand anders erlebt hatte.
»Dann war der Angelus also nicht da?« fragte Richard.
»Nein, da war er nicht«, entgegnete Door, etwas schärfer, fand Richard, als es auf seine Frage angebracht war.
»Aha«, sagte er. »Ich dachte nur.«
Sie gingen in einen anderen Raum. Richard fragte sich, ob er anfing, zu halluzinieren, entweder aufgrund einer Überdosis Zucker im Earl’s Court oder als Folge systematischer Desensibilisierung. »Ich höre Musik«, sagte er. Es klang wie ein Streichquartett.
»Die Party«, erwiderte Door.
Richtig. Die Leute im Smoking, mit denen sie in der Schlange gestanden hatten. Nein, hier schien der Angelus auch nicht zu sein. Door ging in den nächsten Saal, und Richard trottete hinterher. Er wünschte, er könnte sich irgendwie nützlich machen.
»Dieser Angelus«, sagte er. »Wie sieht der eigentlich aus?« Einen Moment lang glaubte er, sie würde ihn ausschimpfen, weil er gefragt hatte. Doch sie blieb stehen und rieb sich die Stirn. »Hier steht nur, daß darauf ein Engel abgebildet ist. Aber so schwer kann er ja nicht zu finden sein. Schließlich – «, fügte sie hoffnungsvoll hinzu, »wie viele Sachen mit Engeln drauf gibt’s denn hier schon?«
Kapitel Neun
Jessica stand ein wenig unter Druck. Sie war besorgt und unruhig und furchtbar nervös. Sie hatte die Sammlung katalogisiert, das British Museum als Ausstellungsort gewonnen, die Restaurierung des Hauptausstellungsstücks organisiert, beim Hängen der Sammlung assistiert und die Gästeliste für die Grandiose Vernissage zusammengestellt.
Daß sie keinen Freund hatte, war ganz in Ordnung, sagte sie ihren Freundinnen immer. Selbst wenn sie einen hätte, würde sie ja doch keine Zeit für ihn haben. Trotzdem, eigentlich wäre es doch ganz schön, dachte sie, wenn sie mal einen Moment Zeit hatte: jemand, mit dem man am Wochenende in Galerien gehen konnte. Jemand, mit dem man …
Nein. Von diesem Winkel ihres Verstands hielt sie sich fern. Diese Gedankenfetzen konnte sie ebensowenig auf den Punkt bringen, wie sie ihren Finger auf eine Quecksilberperle legen konnte, und sie konzentrierte sich wieder auf die Ausstellung.
Selbst jetzt noch, in letzter Minute, gab es so viele Dinge, die schiefgehen konnten. So manches Pferd ist noch an der letzten Hürde gestürzt. So mancher allzu optimistische General mußte schon mit ansehen, wie sich ein sicher geglaubter Sieg in der letzten Minute einer Schlacht in eine Niederlage verwandelte.