»I’m a believer«, sang Richard vergnügt, »I couldn’t leave her if I tried …«
Jessica schnappte sich ein Glas Champagner von einem Tablett, das gerade vorbeigetragen wurde, und leerte es in einem Zug. Am anderen Ende des Raumes bemerkte sie Mr. Stocktons Chauffeur, und wo Mr. Stocktons Chauffeur war …
Sie steuerte auf die Türen zu.
»Und, wer war’s denn nun?« fragte Clarence, als er sich an ihre Seite schob.
»Wer?«
»Der große Geheimnisvolle.«
»Weiß ich nicht«, gab sie zu. Dann sagte sie: »Hör mal, vielleicht solltest du den Sicherheitsdienst rufen.«
»Mach ich. Warum?«
»Hol … hol mir einfach den Sicherheitsdienst«, und dann betrat Mr. Arnold Stockton den Saal, und alles andere verschwand aus ihrem Kopf.
Nicht nur sein Bauch war dick, sondern auch seine Brieftasche: ein Mann wie eine Karikatur von Hogarth, von enormem Körperumfang, mit einem vielfachen Doppelkinn und einem vorstehenden Bauch. Er war über sechzig; sein Haar war grau und silbern, und er trug es hinten zu lang, weil es die Menschen ein wenig aus der Fassung brachte, daß sein Haar zu lang war; und Mr. Stockton gefiel es, wenn seinetwegen Menschen aus der Fassung gerieten.
Verglichen mit Arnold Stockton war Rupert Murdoch ein zwielichtiger kleiner Hosenscheißer und der verstorbene Robert Maxwell ein gestrandeter Wal. Arnold Stockton war ein Pitbull, und als solcher wurde er von Karikaturisten oft gezeichnet.
Stocktons gehörte von allem ein bißchen: Satelliten, Zeitungen, Plattenfirmen, Freizeitparks, Bücher, Magazine, Comics, Fernsehsender, Filmgesellschaften.
»Ich werde jetzt meine Rede halten«, sagte Mr. Stockton als Begrüßung zu Jessica. »Dann hau ich wieder ab. Ich komm’ ein andermal wieder, wenn hier nicht all diese ausgestopften Hemden rumstehen.«
»Gut«, sagte Jessica. »Ja. Die Rede jetzt. Natürlich.«
Und sie geleitete ihn zu der kleinen Bühne und hinauf zum Rednerpult. Sie klickte mit dem Fingernagel an ein Glas, um die Leute zum Schweigen zu bringen. Niemand hörte sie, deshalb sagte sie: »Entschuldigen Sie« in das Mikrofon. Diesmal wurden die Gespräche leiser. »Meine Damen und Herren. Verehrte Gäste. Ich möchte Sie alle im British Museum willkommen heißen«, sagte sie, »und zu der von Stocktons gesponserten Ausstellung ›Engel über England‹ begrüßen. Hier ist der Mann, dem wir all das hier zu verdanken haben, unser Hauptgeschäftsführer und Vorstandsvorsitzender: Mister Arnold Stockton.«
Die Gäste applaudierten, schließlich wußten sie genau, wer die Engelsammlung zusammengetragen und immerhin auch ihren Champagner bezahlt hatte.
Mr. Stockton räusperte sich. »Gut«, sagte er. »Ich mache es kurz. Als ich ein kleiner Junge war, bin ich immer samstags ins British Museum gegangen, weil es dann nichts kostete und wir nicht viel Geld hatten. Und dann bin ich die große Treppe zum Museum hinauf und hintenrum in diesen Raum gegangen, um diesen Engel anzuschauen. Es kam mir vor, als wüßte er, was ich dachte.«
(Clarence kam wieder herein, ein paar Wärter neben sich. Er zeigte auf Richard, der aufgehört hatte, Mr. Stocktons Rede zu lauschen. Door schaute sich immer noch die Ausstellungsstücke an. »Nein, der«, sagte Clarence wieder und wieder mit gedämpfter Stimme zu den Wärtern. »Nein, schauen Sie, genau da. Ja? Der. «)
»Wie auch immer. Wie alles, um das sich keiner kümmert«, fuhr Mr. Stockton fort, »verfiel er immer mehr, wurde ein Opfer des Zahns unserer Zeit. Vergammelte. Verfaulte. Tja, es hat ein Scheißgeld gekostet«, er machte eine rhetorische Pause – wenn er, Arnold Stockton, es als Scheißgeld betrachtete, dann war es natürlich auch ein Scheißgeld –, »und ein Dutzend Handwerker haben eine Menge Zeit damit verbracht, ihn zu restaurieren und wieder herzurichten. Nach dieser Ausstellung reist er nach Amerika und dann um die ganze Welt, und vielleicht kann er noch irgendein anderes armes Schwein dazu anregen, sein eigenes Medienimperium auf die Beine zu stellen.«
Er schaute sich um. Wandte sich zu Jessica, murmelte: »Was soll ich jetzt machen?«
Sie deutete auf das Zugseil neben dem Vorhang.
Mr. Stockton zog daran. Der Vorhang blähte und öffnete sich, und dahinter kam eine alte Tür zum Vorschein.
(»Nein. Der«, sagte Clarence. »Du meine Güte! Sind Sie blind?«)
Sie sah aus, als sei sie einmal die Tür zu einer Kathedrale gewesen. Sie war so groß wie zwei Männer und breit genug, um ein Pony durchzulassen. In das Holz der Tür geschnitzt, rot und weiß angemalt und mit Blattgold vergoldet, war ein ganz außergewöhnlicher Engel. Er starrte mit leeren mittelalterlichen Augen in die Welt hinaus.
Die Gäste schnappten beeindruckt nach Luft. Dann applaudierten sie.
»Der Angelus!« Door zupfte Richard am Ärmel. »Das ist er! Richard, komm!«
Sie lief zur Bühne.
»Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte ein Wärter zu Richard. »Dürften wir einmal Ihre Einladung sehen?« sagte ein weiterer, wobei er Richard fest, aber diskret am Arm nahm. »Und können Sie sich irgendwie ausweisen?«
»Nein«, sagte Richard.
Door war auf der Bühne. Richard versuchte, sich loszureißen und ihr zu folgen, in der Hoffnung, die Wärter würden ihn vergessen. Aber nein.
Jetzt, da sie auf ihn aufmerksam geworden waren, würden sie ihn wie jeden anderen schäbig gekleideten, ungewaschenen, etwas unrasierten Eindringling behandeln. Der Wärter, der Richard am Arm festhielt, verstärkte seinen Griff und murmelte: »So nicht.«
Door hielt auf der Bühne inne und überlegte, wie sie die Wärter dazu bringen könnte, Richard loszulassen. Dann tat sie das einzige, was ihr einfiel. Sie ging hinüber zum Mikrofon, stellte sich auf die Zehenspitzen, und sie schrie, so laut sie nur konnte, hinein.
Sie hatte eine bemerkenswerte Art zu schreien: Auch unverstärkt drang so ein Schrei einem schon in den Kopf wie eine neue Bohrmaschine mit einem Knochensägeaufsatz. Und verstärkt …
Eine Kellnerin ließ ein Tablett voller Getränke fallen. Köpfe drehten sich. Hände hielten Ohren zu. Jedes Gespräch verstummte. Die Menschen starrten entgeistert und entsetzt auf die Bühne.
Und Richard nahm die Beine in die Hand. »Entschuldigung«, sagte er zu dem verdutzten Wärter, als er sich losriß und flüchtete. »Falsches London.«
Er erreichte die Bühne, ergriff Doors ausgestreckte linke Hand. Ihre rechte Hand berührte den Angelus, die riesige Kathedralentür. Berührte sie und öffnete sie.
Diesmal ließ niemand ein Getränk fallen. Sie erstarrten, die Augen weit aufgerissen, völlig überwältigt – und vorübergehend geblendet. Der Angelus hatte sich geöffnet, und von der anderen Seite der Tür flutete strahlendes Licht in den Saal. Da bedeckten die Menschen zögernd die Augen, öffneten sie wieder und gafften einfach nur. Es war, als hätte man in dem Raum ein Feuerwerk angezündet. Kein Feuerwerk für Innenräume, diese seltsamen Kriechdinger, die zischen und stinken; auch keins, wie man es im eigenen Garten abbrennt; sondern ein professionelles Feuerwerk, das so weit nach oben schießt, daß es eine potentielle Gefahr für den Flugverkehr darstellt: ein Feuerwerk, wie es einen Tag in Disneyland beschließt oder der Feuerwehr bei Pink-Floyd-Konzerten Kopfzerbrechen macht. Es war ein Augenblick reiner Magie.
Das Publikum glotzte, verzaubert und verblüfft. Es war nur noch das leise, japsende Beinahe-Stöhnen des Staunens zu hören, das Menschen entfährt, wenn sie sich ein Feuerwerk ansehen: das Geräusch der Ehrfurcht.
Dann gingen ein schmuddeliger junger Mann und ein rotznasiges Mädchen in einer riesigen Lederjacke in die Lightshow hinein und verschwanden. Die Tür schloß sich hinter ihnen. Die Lightshow war vorüber.
Und alles war wieder normal. Die Gäste und Wärter und Kellner blinzelten, schüttelten den Kopf, und da sie es mit etwas zu tun gehabt hatten, das ganz und gar außerhalb ihres Erfahrungshorizonts lag, kamen sie irgendwie wortlos überein, daß es einfach nicht geschehen war.