Mr. Stockton ging ab und nickte dabei einigen Bekannten schroff zu.
Jessica ging zu Clarence hinüber. »Was«, fragte sie leise, »tun diese Wärter hier?«
Die besagten Wärter standen zwischen den Gästen und schauten sich um, als wüßten sie selbst nicht genau, was sie dort taten.
Clarence begann zu erklären, was die Wärter dort taten, und dann stellte er fest, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte.
»Ich kümmere mich darum«, sagte er rasch.
Jessica nickte. Sie ließ den Blick über ihre Party schweifen und lächelte wohlwollend. Es lief alles ziemlich gut.
Richard und Door gingen ins Licht hinein. Und dann war es plötzlich dunkel und kühl, und Richard blinzelte, denn er war fast blind durch das Bild, das das Licht in seine Netzhaut gebrannt hatte: ein geisterhaftes Orange-Grün, das langsam verblich, während seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, die sie umgab.
Sie befanden sich in einer riesigen, in einen Felsen gehauenen Halle. Eisenpfeiler, schwarz und rostbestäubt, stützten das Dach und ragten, vielleicht kilometerweit, ins entfernte Dunkel. Von irgendwoher hörte er das sanfte Plätschern von Wasser: ein Springbrunnen vielleicht, oder eine Quelle. Door hielt immer noch fest seine Hand.
In der Ferne flackerte eine kleine Flamme auf. Und noch eine. Und noch eine. Es war eine Unmenge von Kerzen, stellte Richard fest. Und durch die Kerzen hindurch kam eine große Gestalt in einem einfachen schlichten weißen Gewand auf sie zu.
Die Gestalt bewegte sich scheinbar langsam, doch sie mußte sehr schnell gegangen sein, denn schon nach wenigen Sekunden stand sie neben ihnen. Sie hatte goldenes Haar und ein blasses Gesicht. Sie war nicht viel größer als Richard, doch er fühlte sich neben ihr wie ein kleines Kind. Es war kein Mann. Es war keine Frau. Es war sehr schön.
Seine Stimme war leise. Es sagte: »Lady Door, ja?«
Door sagte: »Ja.«
Ein sanftes Lächeln. Fast ergeben neigte es den Kopf vor ihr. »Es ist mir eine Ehre, dich und deinen Begleiter endlich kennenzulernen. Ich bin der Engel Islington.«
Seine Augen waren klar und groß. Sein Gewand war nicht weiß, wie Richard anfangs geglaubt hatte: Es sah aus, als sei es aus Licht gewoben.
Richard glaubte nicht an Engel. Er hatte noch nie an Engel geglaubt. Er wollte verdammt sein, wenn er jetzt damit anfing. Aber es ist viel einfacher, an etwas nicht zu glauben, wenn es einem nicht direkt in die Augen schaut und einen beim Namen nennt.
»Richard Mayhew«, sagte er. »Auch du bist hier in meinen Hallen willkommen.«
Er wandte sich ab. »Bitte«, sagte er. »Folgt mir.«
Richard und Door folgten dem Engel. Hinter ihnen verloschen die Kerzen von selbst.
Der Marquis de Carabas schritt durch das leere Krankenhaus, Glasscherben und alte Spritzen unter seinen schwarzen Motorradstiefeln zermalmend.
Er trat durch eine Doppeltür, die zu einem schwarzen Treppenhaus führte. Er stieg die Treppe hinab.
Er ging durch die Tunnel unter dem Gebäude und bemühte sich, nicht in die schimmelnden Müllhaufen zu treten. Er ging durch die Duschen und die Toiletten, eine alte Eisentreppe hinunter, durch eine matschige Stelle; und dann zog er eine halbverrottete Holztür auf und ging hinein.
Er schaute sich um und inspizierte angewidert das halb aufgegessene Kätzchen und den Haufen Rasierklingen.
Dann fegte er den Schutt von einem Stuhl, machte es sich in dem klammen Keller so richtig bequem und schloß die Augen.
Bald darauf wurde die Kellertür geöffnet, und Leute kamen herein.
Der Marquis de Carabas öffnete die Augen und gähnte. Dann schenkte er Mr. Croup und Mr. Vandemar ein breites Lächeln.
»Hallo Jungs«, sagte de Carabas. »Ich fand, es sei höchste Zeit, daß ich mal runterkomme und persönlich mit euch spreche.«
Kapitel Zehn
»Trinkt Ihr Wein?« fragte er.
Richard nickte.
»Ich hab’ schon mal einen Schluck Wein getrunken«, sagte Door. »Mein Vater. Er. Hat uns. Beim Essen. Davon probieren lassen.«
Der Engel Islington hob die Flasche hoch. Sie sah aus wie eine Art Karaffe. Richard fragte sich, ob die Flasche aus Glas war; sie brach und reflektierte das Kerzenlicht so seltsam. Vielleicht war sie aus irgendeinem Kristall oder einem riesigen Diamanten. Es sah sogar so aus, als glühte der Wein darin, als wäre er aus Licht. Der Engel nahm den Deckel von dem Kristall und goß die Flüssigkeit ein paar Zentimeter hoch in ein Weinglas. Es war ein Weißwein, aber einer, wie Richard noch keinen gesehen hatte. Er strahlte wie Sonnenlicht auf der Oberfläche eines Schwimmbeckens.
Door und Richard saßen an einem altersgeschwärzten Holztisch, auf riesigen Holzstühlen, und schwiegen.
»Diese Flasche Wein«, sagte Islington, »ist die letzte ihrer Art. Einer deiner Vorfahren hat mir zwölf Flaschen davon geschenkt.«
Er reichte Door das Glas und begann, noch etwas von dem glühenden Wein aus der Karaffe in ein weiteres Glas zu gießen, ehrfürchtig, beinahe liebevoll, wie ein Priester, der einen Ritus ausführt.
»Es war ein Willkommensgeschenk. Das ist, ach, dreißig-, vierzigtausend Jahre her. Ziemlich lange her jedenfalls. «
Er reichte Richard das Weinglas.
»Eigentlich sollte ich so etwas Kostbares lieber nicht verschwenden, sondern wie einen Schatz hüten«, sagte er. »Aber ich empfange so selten Gäste. Und der Weg hierher ist schwer.«
»Der Angelus …« murmelte Door.
»Ihr seid mit Hilfe des Angelus hergekommen, ja. Doch diesen Weg kann jeder nur einmal gehen.« Der Engel hob sein Glas in die Höhe und schaute ins Licht. »Trinkt vorsichtig«, riet er ihnen. »Er ist äußerst stark.« Er setzte sich zwischen Richard und Door an den Tisch. »Mir will immer scheinen«, sagte er träumerisch, »als schmeckte man das Sonnenlicht vergangener Tage, wenn man ihn trinkt.« Er hielt sein Glas hoch. »Ein Toast: auf den Glanz früherer Zeiten.«
»Auf den Glanz früherer Zeiten«, sprachen Richard und Door nach. Und dann probierten sie den Wein; ganz behutsam nippten sie daran.
»Er ist unglaublich«, sagte Door.
»Ja, wirklich«, sagte Richard. »Ich dachte, alte Weine werden an der Luft zu Essig.«
Der Engel schüttelte den Kopf. »Dieser nicht. Das ist alles eine Frage der Traubensorte und des Ortes, an dem sie gewachsen ist. Diese Traubensorte wurde leider vernichtet, als der Weinberg ein Opfer der Wellen wurde.«
»Das ist Magie«, sagte Door, an dem flüssigen Licht nippend. »So einen Geschmack habe ich noch nie erlebt.«
»Und du wirst ihn auch nie wieder erleben«, sagte Islington. »Es gibt keinen Wein aus Atlantis mehr.«
Richard öffnete den Mund, um seinem Gastgeber zu sagen, daß es nie ein Atlantis gegeben habe, doch dann fiel ihm ein, daß es auch keine Engel gab und daß daher das meiste von dem, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, gar nicht möglich war, daher schloß er den Mund wieder und nahm noch einen Schluck Wein.
Er machte ihn glücklich. Er ließ ihn an einen Himmel denken, der größer und blauer war, als er je einen gesehen hatte, eine goldene Sonne, die am Himmel hing; alles war einfacher, alles war jünger als die Welt, die er kannte.
Zu ihrer Linken befand sich ein Wasserfall; klares Wasser lief den Felsen hinab und sammelte sich in dem Felsbecken. Zu ihrer Rechten war eine Tür, zwischen zwei Eisenpfeiler eingefügt: Die Tür bestand aus poliertem Feuerstein, der in ein Metall von beinahe schwarzer Farbe eingelassen war.
»Sie behaupten tatsächlich, ein Engel zu sein?« fragte Richard. »Ich meine, Sie haben wirklich schon einmal Gott gesehen und so weiter?«