Islington lächelte nachsichtig. »Ich behaupte gar nichts, Richard«, sagte er. »Aber ich bin ein Engel.«
»Sie erweisen uns eine große Ehre«, sagte Door.
»Nein. Ihr habt mir eine Ehre erwiesen, indem ihr hierher gekommen seid. Dein Vater war ein guter Mann, Door, und er war mein Freund. Sein Tod hat mich sehr traurig gemacht.«
»Er hat gesagt … in seinem Tagebuch … hat er gesagt, ich solle zu Ihnen gehen. Er hat gesagt, ich könne Ihnen trauen.«
»Dann will ich hoffen, daß ich dieses Vertrauens würdig bin.« Der Engel nippte an seinem Wein. »Unter-London ist die zweite Stadt, die mir je etwas bedeutet hat. Die erste ist in den Wellen versunken, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich weiß, was Schmerz und was Trauer ist. Du hast mein ganzes Mitgefühl. Was möchtest du wissen? «
Door zögerte. »Meine Familie … sie wurde von Mister Croup und Mister Vandemar umgebracht. Aber – wer hat den Befehl dazu gegeben? Ich will … ich will wissen, warum.«
Der Engel nickte. »Viele Geheimnisse finden ihren Weg zu mir herab«, sagte er. Dann wandte er sich Richard zu. »Und du? Was willst du, Richard Mayhew?«
Richard zuckte mit den Schultern. »Ich will mein Leben wiederhaben. Und meine Wohnung. Und meinen Job.«
»Das läßt sich machen«, sagte der Engel.
»Ja. Gut«, sagte Richard mit ausdrucksloser Stimme.
»Zweifelst du an mir, Richard Mayhew?« fragte der Engel Islington. Richard sah ihm in die Augen. Er blickte in Augen, die so alt waren wie das Universum: Augen, die gesehen hatten, wie Sternenstaub zu Galaxien gerann.
Er schüttelte den Kopf.
Islington lächelte ihn freundlich an. »Es wird nicht leicht sein, und euch und euren Begleitern stehen noch bestimmte Prüfungen bevor. Doch es gibt einen Weg. Einen Schlüssel zu euren Problemen.« Er erhob sich, ging zu einem kleinen Felsregal hinüber und nahm eine kleine Statue in die Hand, eine von mehreren auf dem Regal. Es war eine schwarze Statuette, die eine Art Tier darstellte, aus vulkanischem Glas. Der Engel reichte sie Door.
»Dies wird euch sicher durch den letzten Teil eurer Reise zurück zu mir bringen«, sagte er. »Der Rest liegt bei euch.«
»Was sollen wir tun?« fragte Richard.
»Die Black Friars, die Schwarzen Mönche, sind die Wächter eines Schlüssels«, sagte er. »Bringt ihn mir.«
»Und damit können Sie herausfinden, wer meine Familie getötet hat?« fragte Door.
»Ich hoffe es«, sagte der Engel.
Richard leerte sein Weinglas. Er spürte, wie der Wein ihn wärmte, als er durch ihn hindurchfloß. Er hatte das seltsame Gefühl, wenn er auf seine Finger schaute, würde er den Wein durch sie hindurch glühen sehen. Als wäre er aus Licht …
»Viel Glück«, flüsterte der Engel Islington.
Ein Rauschen war zu hören, wie ein Wind, der über einen untergegangenen Wald streift, oder das Schlagen mächtiger Flügel.
Richard und Door saßen in einem Raum des British Museum auf dem Boden und starrten zu der bemalten Schnitzerei eines Engels auf einer Kathedralentür empor.
Der Raum war dunkel und leer.
Die Party war seit geraumer Zeit vorbei. Draußen wurde der Himmel langsam hell.
Richard stand auf, beugte sich dann hinab und half Door auf. »Black Friars?« fragte er.
Door nickte.
»Personen oder Ort?« fragte er.
»Personen.«
Richard ging zum Angelus hinüber. Er fuhr mit dem Finger über dessen gemaltes Gewand. »Glaubst du, daß er das wirklich kann? Mir mein Leben zurückgeben?«
»So etwas hab’ ich noch nie gehört. Aber ich glaube nicht, daß er uns anlügen würde. Er ist ein Engel.«
Door öffnete die Faust und blickte auf die Statue des Ungeheuers.
»Mein Vater hatte auch so eine«, sagte sie.
Sie steckte sie tief in eine der Taschen ihrer braunen Lederjacke.
»Also«, sagte Richard. »Wir kriegen den Schlüssel bestimmt nicht, indem wir hier herumtrödeln, oder?«
Sie gingen durch die leeren Korridore.
»Was weißt du eigentlich über diesen Schlüssel?« fragte Richard.
»Nichts«, erwiderte Door. Sie hatten den Haupteingang des Museums erreicht. »Ich hab’ schon mal von den Black Friars gehört, aber ich hatte noch nie wirklich etwas mit ihnen zu tun.«
Sie berührte eine Glastür, und diese ging auf.
»Mönche …«, sagte Richard nachdenklich. »Ich wette, wenn wir denen sagen, daß der Schlüssel für einen Engel ist, einen richtigen Engel, dann geben sie uns den heiligen Schlüssel und den magischen Dosenöffner und den fantastischen pfeifenden Korkenzieher noch als Überraschungsbonus dazu.« Er begann zu lachen.
»Du bist ja ziemlich guter Stimmung«, sagte Door.
Er nickte begeistert. »Ich kann wieder nach Haus. Alles wird wieder normal. Wieder langweilig. Wieder wunderbar. «
Richard sah die Steinstufen an, die zum British Museum hinaufführten, und fand, sie seien dazu geschaffen, von Fred Astaire und Ginger Rogers hinabgetanzt zu werden. Und da er sah, daß von beiden keiner in der Nähe war, begann er selbst die Stufen hinabzutanzen, wobei er sich einbildete, daß er es durchaus mit Fred Astaire aufnehmen konnte, und irgend etwas zwischen »Puttin’ on the Ritz« und »Wombling White Tie and Tails« summte.
Door stand oben an der Treppe und starrte ihn entsetzt an. Dann begann sie haltlos zu kichern.
Er schaute zu ihr hoch und lüpfte seinen imaginären weißen Seidenzylinder.
»Schwachkopf«, sagte Door und lächelte ihn an.
Als Antwort ergriff Richard ihre Hand und fuhr fort, die Stufen auf und ab zu tanzen. Door zögerte einen Moment, dann begann auch sie zu tanzen. Sie tanzte viel besser als Richard.
Am Fuß der Treppe fielen sie einander atemlos und erschöpft und kichernd in die Arme.
Um Richard drehte sich alles.
»Laß uns gehen und unsere Leibwächterin suchen«, sagte Door.
Und sie gingen zusammen die Straße hinunter und strauchelten dann und wann.
»Was«, fragte Mr. Croup, »wollen Sie?«
»Was«, fragte der Marquis de Carabas, »will jeder?«
»Tote Sachen«, antwortete Mr. Vandemar. »Zusätzliche Zähne.«
»Ich dachte, vielleicht könnten wir einen Handel abschließen«, sagte der Marquis.
Mr. Croup begann zu lachen. Es klang, als würde man eine Schiefertafel über eine Wand voll abgeschnittener Fingernägelspitzen ziehen. »Ach, Messire Marquis. Ich glaube, ich kann guten Gewissens – und ohne daß mir irgendwelche der hier anwesenden Parteien widersprechen würden – behaupten, daß Sie jeglicher Vernunft, die Ihnen einst zugebilligt wurde, verlustig gegangen sind. Wenn Sie diese vulgäre Ausdrucksweise gestatten: Sie haben sie nicht mehr alle.«
»Ein Wort«, sagte Mr. Vandemar, der jetzt hinter dem Stuhl des Marquis stand, »und er ist im Nu um einen Kopf kürzer.«
Der Marquis hauchte kräftig auf seine Fingernägel und polierte sie an seinem Mantelrevers. »Ich war schon immer der Ansicht«, bekannte er, »daß Gewalt das einzige Mittel der Dilettanten ist, und daß leere Drohungen der letzte Strohhalm der ewigen Stümper sind.«
Mr. Croup funkelte ihn wütend an. »Was tun Sie hier?« zischte er.
Der Marquis de Carabas reckte und streckte sich wie eine große Katze: ein Luchs vielleicht, oder ein riesiger schwarzer Panther. Am Ende der Bewegung stand er, die Hände tief in den Taschen.
»Mir ist zu Ohren gekommen, Mister Croup«, warf er beiläufig hin, »daß Sie Figurinen aus der T’ang-Dynastie sammeln.«
»Woher wissen Sie das?«
»So etwas erzählt man mir eben. Ich bin ein zugänglicher Mensch.« Das Lächeln des Marquis war rein, ungetrübt, treuherzig: das Lächeln eines Mannes, der einem einen Gebrauchtwagen verkaufen will.
»Selbst wenn ich das täte …«, begann Mr. Croup.