Door steckte ihrer Leibwächterin die Zunge heraus. »Unsinn. Hab’ kaum was angerührt. So ’n bißchen nur.«
Sie hielt zwei Finger hoch, um zu zeigen, wie wenig ›so ’n bißchen‹ war.
»Wir waren bloß auf ’ner Party«, sagte Richard, »und haben Jessica gesehen und einen echten Engel, und dann haben wir ’n klitzekleines Schlückchen getrunken und sind gleich wieder hergekommen.«
»Bloß ein kleines Glas«, fuhr Door beharrlich fort. »’n gaaanz alten Wein. Bloß ’n winnnzigkleines Gläschen. Ganz winzig. Fast gar nicht da.«
Sie bekam einen Schluckauf. Dann kicherte sie wieder. Ein Hicksen unterbrach sie, und sie setzte sich abrupt auf den Bahnsteig.
»Ich glaube fast, wir haben einen Schwips«, sagte Door nüchtern.
Dann schloß sie die Augen, sank zur Seite und begann feierlich zu schnarchen.
Der Marquis de Carabas rannte die unterirdischen Wege entlang, als seien ihm alle Höllenhunde auf den Fersen. Er watete fünfzehn graue Zentimeter tief durch den Tyburn River, den Henkersfluß, der in der Finsternis unter der Park Lane durch ein Backsteinsiel zum Buckingham Palace geleitet wurde. Der Marquis rannte seit siebzehn Minuten.
Zehn Meter unter Marble Arch hielt er inne. Das Siel teilte sich.
Der Marquis de Carabas lief die linke Abzweigung hinunter. Einige Minuten später marschierte Mr. Vandemar das Siel entlang. Und als er die Kreuzung erreichte, hielt auch er einen Moment inne und sog witternd die Luft ein. Und dann ging auch er die linke Abzweigung hinunter.
Hunter ließ Richard Mayhews besinnungslosen Leib mit einem Grunzen auf einen Strohhaufen fallen. Er rollte ins Stroh, sagte etwas, das sich anhörte wie »Frossel bwlibbig pschuller blp«, und schlief wieder ein.
Door legte sie etwas sanfter neben ihm ins Stroh. Dann ließ sie sich neben Door nieder, in den dunklen Ställen unter der Erde, immer noch Wache haltend.
Der Marquis de Carabas war erschöpft. Er lehnte an der Tunnelmauer und schaute die Stufen an, die vor ihm nach oben führten. Dann sah er auf die goldene Taschenuhr. Fünfunddreißig Minuten waren vergangen, seit er aus dem Krankenhauskeller geflüchtet war.
»Schon eine Stunde rum?« fragte Mr. Vandemar.
Er saß auf den Stufen vor dem Marquis und säuberte sich mit einem Messer die Nägel.
»Noch lange nicht«, japste der Marquis.
»Kam mir aber wie ’ne Stunde vor«, sagte Mr. Vandemar.
Die Welt erschauerte, und Mr. Croup stand hinter dem Marquis de Carabas. Er hatte immer noch Pulver am Kinn.
De Carabas starrte Croup an. Er drehte sich um, um Mr. Vandemar anzusehen. Und dann begann er auf einmal zu lachen.
Mr. Croup lächelte. »Sie finden uns komisch, Messire Marquis, nicht wahr? Eine Quelle der Heiterkeit. Das stimmt doch, oder? Wir mit unseren schönen Anzügen und unserer prolixen Lokution – «
Mr. Vandemar murmelte: »Was für’n Lokus?«
» – und unseren dummen kleinen Eigenheiten. Und vielleicht sind wir sogar amüsant.« Mr. Croup hob einen Finger und drohte de Carabas damit. »Aber kommen Sie nur nicht auf die Idee«, fuhr er fort, »daß etwas, nur weil es amüsant ist, Messire Marquis, nicht auch gefährlich sein kann.«
Und Mr. Vandemar warf sein Messer nach dem Marquis, schwungvoll und präzise. Es traf ihn mit dem Heft voran an der Schläfe. Seine Augen rollten nach oben, und seine Knie gaben nach.
»Lokution«, sagte Mr. Croup. »Prolixe Lokution bedeutet geschraubte Ausdrucksweise. Weitschweifigkeit. Geschwafel. «
Mr. Vandemar hob den Marquis de Carabas am Hosenbund hoch und zerrte ihn die Treppe hinauf, und der Kopf des Marquis rumpelte dabei die Stufen hoch.
Mr. Vandemar nickte. »Ich hatte mich schon gewundert«, sagte er.
Er wußte, daß es auf sie wartete. In jedem Tunnel, an jeder Ecke, an jeder Abzweigung spürte er es deutlicher. Er wußte, daß es da war. Das Gefühl, daß gleich etwas Entsetzliches geschehen würde, verstärkte sich mit jedem Schritt.
Er hätte eigentlich erleichtert sein müssen, als er um die letzte Ecke bog und es dastehen sah, eingerahmt vom Tunnel, auf ihn wartend. Doch er hatte nur furchtbare Angst.
In seinem Traum war es so groß wie die ganze Welt. Es gab nur noch das Ungeheuer mit seinen dampfenden Flanken. Zerbrochene Rundhölzer und Teile alter Waffen ragten stachelig aus seinem Fell. An seinen Hörnern und Stoßzähnen klebte getrocknetes Blut. Es war widerwärtig und riesengroß und böse.
Und dann griff es an.
Er hob die Hand (doch es war nicht seine Hand), und er warf den Speer nach der Kreatur.
Er sah seine Augen, rot und boshaft und hämisch, als sie auf ihn zuschwebten, alles im Bruchteil einer Sekunde, der zu einer winzigen Ewigkeit wurde. Und dann war es über ihm …
Das Wasser war kalt, und es traf Richard ins Gesicht wie eine Ohrfeige. Er riß die Augen auf und schnappte nach Luft.
Hunter sah auf ihn herunter. Sie hatte einen großen Holzeimer in der Hand. Er war leer.
Er hob eine Hand. Seine Haare waren klatschnaß. Er wischte sich das Wasser aus den Augen und schauderte.
»Das hätten Sie nicht tun müssen«, sagte Richard. Er hatte einen Geschmack im Mund, als ob irgendwelche Kleintiere diesen als Toilette benutzt hatten, bevor sie zu etwas undefinierbar Grünem zerflossen waren. Er versuchte aufzustehen und setzte sich dann sofort wieder hin. »Uuh«, erklärte er.
»Wie geht es Ihrem Kopf?« fragte Hunter geschäftsmäßig.
»Dem ging’s schon mal besser«, sagte Richard.
Hunter nahm einen weiteren Holzeimer, diesmal mit Wasser gefüllt, und schleppte ihn über den Stallboden. »Ich weiß nicht, was Sie getrunken haben«, sagte sie. »Aber es muß stark gewesen sein.«
Hunter tauchte ihre Hand in den Eimer und benetzte Doors Gesicht mit Wasser. Doors Augenlider zuckten.
»Kein Wunder, daß Atlantis untergegangen ist«, murmelte Richard. »Wenn die sich morgens alle so gefühlt haben, war es wahrscheinlich eine Erlösung. Wo sind wir?«
Hunter spritzte Door noch eine Handvoll Wasser ins Gesicht. »In den Stallungen einer Freundin«, sagte sie.
Richard schaute sich um. Hier sah es wirklich ein wenig wie in einem Stall aus. Er fragte sich, ob er für Pferde gedacht war – was für Pferde mochten unter der Erde leben? An der Wand war eine Zeichnung: der Buchstabe S (oder war es eine Schlange? Richard konnte es nicht erkennen), umringt von sieben Sternen.
Door streckte zögernd die Hand aus und berührte prüfend ihren Kopf, als wüßte sie nicht genau, was sie da finden würde. »Uuh«, sagte sie beinahe flüsternd. »Temple und Arch. Bin ich tot?«
»Nein«, sagte Hunter.
»Schade.«
Hunter half ihr auf. »Na ja«, sagte Door verschlafen, »immerhin hatte er uns vor dem Wein gewarnt.«
Und dann wachte sie endgültig auf, sehr heftig, sehr schnell. Sie packte Richards Schulter, zeigte auf die Zeichnung an der Wand, das schlangengleiche S mit den Sternen darum herum. Sie japste und erinnerte an eine Maus, die gerade gemerkt hat, daß sie in einem Katzenzwinger aufgewacht ist.
»Serpentine!« sagte sie zu Richard, zu Hunter. »Das ist Serpentines Wappen. Richard, steh auf! Wir müssen weglaufen – bevor sie herausfindet, daß wir hier sind …«
»Glaubst du wirklich«, fragte eine trockene Stimme vom Eingang her, »daß du Serpentines Haus betreten kannst, ohne daß Serpentine etwas davon weiß, mein Kind?«
Door preßte sich gegen das Holz der Stallwand. Sie zitterte. Richard wurde trotz des Hämmerns in seinem Kopf klar, daß er Door noch nie in Angst gesehen hatte.