Die Krähe krächzte wieder altklug.
»Drei Drinks. Stimmt. Und der Barmann sagt, hör mal, bist du nicht eine von diesen Krawatten? Und sie sagt, die Krawatte, sie brummelt: Nein, ich bin ein Knoten in Not. Knoten, in (K)Not sein, ohne K – verstanden? Wortspiel. Sehr, sehr lustig.«
Die Stare machten höfliche Geräusche. Die Krähen nickten und legten den Kopf zur Seite. Dann krächzte die älteste Krähe etwas.
»Noch einen? Also wißt ihr, ich bin doch keine Witzmaschine. Laßt mich mal überlegen …«
Ein Geräusch drang aus dem Zelt. Ein tiefes, pulsierendes Geräusch, wie das Schlagen eines fernen Herzens. Old Bailey eilte hinein. Das Geräusch kam aus einer alten Holztruhe, in der Old Bailey die Sachen aufbewahrte, die ihm kostbar waren. Er öffnete die Truhe.
Das pochende Geräusch wurde sehr viel lauter.
Das kleine Silberkästchen lag zuoberst auf Old Baileys Schatz. Er streckte seine schwielige Hand aus und nahm es heraus. Ein rotes Licht pulsierte und glimmte rhythmisch darin, wie ein Herzschlag, und schien durch die silberne Filigranarbeit und durch die Ritzen und Halterungen.
»Er ist in Schwierigkeiten«, sagte Old Bailey.
Die älteste Krähe krächzte eine Frage.
»Der Marquis«, sagte Old Bailey. »Er ist in großen Schwierigkeiten.«
Richard hatte seinen zweiten Teller gerade halb aufgegessen, als Serpentine ihren Stuhl vom Tisch wegschob.
»Ich glaube, es reicht jetzt mit der Gastfreundschaft«, sagte sie. »Mein Kind, junger Mann, guten Tag. Hunter …« Sie hielt inne. Dann fuhr sie Hunter mit einem klauenähnlichen Finger die Kinnlade entlang. »Hunter, du bist hier immer willkommen.«
Sie nickte ihnen gebieterisch zu, stand auf und ging davon, gefolgt von dem Butler mit der Wespentaille.
»Wir sollten jetzt gehen«, sagte Hunter. Sie erhob sich vom Tisch, und Door und Richard folgten ihr, letzterer allerdings eher widerstrebend.
Sie gingen einen Korridor entlang, der so schmal war, daß nur einer zur Zeit hindurchpaßte. Sie stiegen ein paar Steinstufen empor. Sie überquerten in der Finsternis eine eiserne Brücke, während unter ihnen U-Bahnen hallten. Dann betraten sie etwas, das offenbar ein endloses Netz unterirdischer Katakomben war, die nach Feuchtigkeit und Fäulnis rochen, nach Ziegeln und Steinen und Zeit.
»Das war also Ihre alte Chefin, hm? Die machte doch einen ganz netten Eindruck«, sagte Richard zu Hunter.
Hunter sagte nichts.
Door, die etwas wortkarg gewesen war, sagte: »Wenn auf der Unterseite die Kinder unartig sind, sagt man zu ihnen: ›Wenn du nicht brav bist, kommt Serpentine dich holen.‹«
»Oh«, sagte Richard. »Und Sie haben für sie gearbeitet, Hunter?«
»Ich habe für alle Seven Sisters gearbeitet.«
»Ich dachte, die hätten seit, ach, mindestens dreißig Jahren nicht mehr miteinander gesprochen«, sagte Door.
»Gut möglich. Aber damals sprachen sie noch miteinander. «
»Wie alt sind Sie denn?« fragte Door. Richard war froh, daß sie gefragt hatte; er hätte sich das nie getraut.
»So alt wie meine Zunge«, sagte Hunter, »und ein bißchen älter als meine Zähne.«
»Wie auch immer«, sagte Richard, und es hörte sich an, als hätte er seinen Kater überwunden und wüßte genau, daß irgendwo über ihnen jemand einen schönen Tag genoß. »Das war in Ordnung. Leckeres Essen. Und keiner hat versucht, uns umzubringen.«
»Ich bin sicher, das wird sich im Laufe des Tages noch ändern«, sagte Hunter völlig zutreffend. »In welcher Richtung geht es zu den Black Friars, Mylady?«
Door hielt inne und konzentrierte sich.
»Wir gehen am Fluß entlang«, sagte sie. »Dort drüben.«
»Kommt er schon wieder zu sich?« fragte Mr. Croup.
Mr. Vandemar piekte einen langen Finger in den leblosen Körper des Marquis. Dessen Atem ging flach. »Noch nicht, Mister Croup. Ich glaube, ich habe ihn kaputtgemacht. «
»Sie müssen vorsichtiger mit Ihren Spielzeugen umgehen, Mister Vandemar«, sagte Mr. Croup.
Kapitel Elf
»Hunter, worauf haben Sie es eigentlich abgesehen?« fragte Richard.
Die drei gingen am Ufer eines unterirdischen Flusses entlang. Richard betrachtete respektvoll das graue Wasser, das eine Armlänge entfernt rauschte und wogte. Dies war nicht die Sorte Fluß, in den man hineinfiel und aus dem man dann wieder herausstieg. Es war die andere Sorte.
»Abgesehen?«
»Na ja«, sagte er. »Ich versuche, ins richtige London zurückzukommen und in mein altes Leben. Door will herausfinden, wer ihre Familie umgebracht hat. Und worauf haben Sie es abgesehen?«
Sie quälten sich Schritt für Schritt am Ufer entlang. Hunter ging voraus. Sie sagte nichts.
Der Fluß floß gemächlicher und mündete in einen kleinen unterirdischen See. Sie gingen am Ufer entlang, ihre Lampen spiegelten sich im schwarzen Wasser, die Reflexion wurde vom Flußnebel verwischt.
»Also, was ist es?« fragte Richard. Eigentlich erwartete er gar keine Antwort.
Hunters Stimme war leise und eindringlich. Sie ließ sich nicht aus dem Takt bringen. »Ich habe in der Kanalisation unter New York mit dem großen blinden weißen Alligatorkönig gekämpft. Er war neun Meter lang, mit Abwässern gemästet und ein gefährlicher Gegner. Und ich habe ihn besiegt, und ich habe ihn getötet. Seine Augen waren wie riesige Perlen in der Finsternis.«
Ihre Stimme mit dem seltsamen Akzent hallte durch den Untergrund, vom Nebel umschlungen.
»Ich habe mit dem Bären gekämpft, der in der Stadt unter Berlin jagte. Er hatte tausend Männer getötet, und das getrocknete Blut von hundert Jahren klebte braun und schwarz an seinen Klauen, aber mir mußte er sich geschlagen geben. Er flüsterte Worte in einer menschlichen Sprache, als er starb.«
Der Nebel hing tief über dem See. Richard bildete sich ein, er könne die Kreaturen sehen, von denen sie sprach, weiße Schemen, die sich im Dunst krümmten.
»Es gab einen schwarzen Tiger in der Unterstadt von Kalkutta. Einen Menschenfresser, intelligent und verbittert, von der Größe eines kleinen Elefanten. Ein Tiger ist ein würdiger Gegner. Ich habe ihn mit meinen bloßen Händen besiegt.«
Er warf Door einen Blick zu. Sie lauschte Hunter aufmerksam: Dies war also auch ihr neu.
»Und ich werde das Ungeheuer von London erlegen. Es heißt, sein Fell starre vor Schwertern und Speeren und Messern von jenen, die vergeblich versucht haben, es zu töten. Seine Stoßzähne sind Rasiermesser, und seine Hufe sind Donnerkeile.
Ich werde es töten, oder ich werde bei dem Versuch umkommen.«
Ihre Augen leuchteten bei dem Gedanken an ihre Beute. Der Flußnebel wurde langsam zu einer dicken gelben Brühe.
Eine Glocke schlug nicht weit von ihnen dreimal. Man hörte sie über das Wasser schallen.
Es wurde langsam heller. Richard glaubte, er könne um sie herum die Umrisse von Gebäuden erkennen. Der gelbgrüne Nebel verdickte sich: Er schmeckte nach Asche und dem Schmutz von tausend Jahren in der Stadt. Er klebte an ihren Lampen und dämpfte das Licht.
»Was ist das?« fragte er.
»Der Londoner Nebel«, sagte Hunter.
»Aber den gibt es doch schon seit Jahren nicht mehr, oder? Seit dem Clean Air Act und so weiter.« Richard ertappte sich dabei, wie er an die Sherlock-Holmes-Bücher seiner Kindheit dachte. »Wie wurde er genannt?«
»Erbsensuppe«, sagte Door. »Waschküche. Auf der Oberseite hat es jetzt seit bestimmt vierzig Jahren keinen mehr gegeben. Sein Geist spukt bei uns hier unten. Hm. Kein Geist. Eher ein Echo.«