Richard atmete einen Strang des gelbgrünen Nebels ein und begann zu husten.
»Das klingt gar nicht gut«, sagte Door.
»Hab’ was in den falschen Hals gekriegt«, sagte Richard.
Der Boden wurde klebriger, matschiger: Er sog beim Gehen an Richards Füßen.
»Immerhin«, sagte er, um sich zu beruhigen, »ein bißchen Nebel hat noch keinem geschadet.«
Door schaute ihn mit großen Koboldaugen an. »1952 gab es einen, der schätzungsweise viertausend Leute das Leben gekostet hat.«
»Leute von hier?« fragte er. »Aus Unter-London?«
»Ihre Leute«, sagte Hunter.
Richard war durchaus bereit, das zu glauben. Er dachte daran, die Luft anzuhalten, doch der Nebel wurde dicker. Der Boden wurde breiiger. »Ich versteh’ das nicht. Wieso habt ihr hier unten Nebel, und wir haben keinen?«
Door kratzte sich an der Nase. »Es gibt in London kleine Blasen der alten Zeit, in denen die Dinge und Orte sich nicht verändern, genau wie in den Blasen in Bernstein«, erklärte sie. »Es gibt eine Menge Zeit in London, und die muß schließlich irgendwohin – es wird nicht alles auf einmal verbraucht.«
»Vielleicht bin ich noch nicht wieder ganz klar im Kopf«, seufzte Richard. »Aber das machte beinahe Sinn.«
Der Abt wußte, daß der heutige Tag Pilger bringen würde. Dies Wissen stammte aus seinen Träumen; es umgab ihn wie die Finsternis. So wurde es ein Tag des Wartens, was, wie er wußte, eine Sünde war: der Augenblick wollte erlebt werden; Warten war eine Sünde, nicht nur wider die Zeit, die noch kommen würde, sondern auch wider den Augenblick, dem man gerade keine Beachtung schenkte.
Dennoch wartete er.
Jeden Gottesdienst des Tages, jede ihrer kärglichen Mahlzeiten verbrachte der Abt aufmerksam darauf lauschend, ob endlich die Glocke ertönte, ob er endlich erfahren würde, wer und wie viele es waren.
Er ertappte sich dabei, daß er auf einen sauberen Tod hoffte. Der letzte Pilger hatte noch fast ein Jahr überlebt, als sabberndes, schreiendes Etwas. Der Abt betrachtete seine Blindheit weder als Segen noch als Fluch: Sie war einfach da, aber dennoch war er dankbar gewesen, daß er das Gesicht der armen Kreatur nicht hatte sehen können. Bruder Jet, der sich um sie gekümmert hatte, wachte nachts immer noch schreiend mit ihrem verzerrten Gesicht vor Augen auf.
Am späten Nachmittag schlug die Glocke dreimal. Der Abt kniete gerade in der Kapelle und verharrte vor dem, was in die Obhut seines Ordens gegeben worden war. Er richtete sich auf, tastete sich zum Korridor und wartete dort.
»Vater?« Die Stimme gehörte Bruder Fuliginous.
»Wer bewacht die Brücke?« fragte der Abt ihn. Seine Stimme klang für einen alten Mann überraschend tief und melodiös.
»Bruder Sable«, kam die Antwort aus der Finsternis.
Der Abt streckte die Hand aus, ergriff den Ellenbogen des jungen Mannes und ging langsam neben ihm her durch die Korridore der Abtei.
Es war kein fester Boden mehr da und kein See. Sie wateten in dem gelben Nebel durch eine Art Sumpf. Es spritzte und matschte.
»Das ist ekelhaft«, sagte Richard. Es durchweichte seine Schuhe, drang in seine Socken und freundete sich viel intensiver mit seinen Zehen an, als Richard lieb war.
Vor ihnen ragte eine Brücke aus dem Sumpf, und eine schwarzgekleidete Gestalt wartete an ihrem Ende. Er trug die schwarze Tracht eines Dominikanermönchs. Seine Haut hatte die dunkle Farbe alten Mahagonis. Er war ein großer Mann, und er hatte einen hölzernen Stock in der Hand, der so groß war wie er selbst.
»Haltet ein!« rief er. »Sagt mir eure Namen und euren Rang.«
»Ich bin Lady Door«, sagte Door. »Ich bin Porticos Tochter, vom Hause Arch.«
»Ich bin Hunter. Ich bin ihre Leibwächterin.«
»Richard Mayhew«, sagte Richard. »Naß.«
»Und ihr wollt passieren?«
Richard trat vor. »Ja, so ist es. Wir sind wegen eines Schlüssels hier.«
Der Mönch sagte nichts. Er hob seinen Stock und stieß Richard damit sanft vor die Brust. Richard verlor den Halt, und er landete in dem schlammigen Wasser (oder, um einen Tick genauer zu sein, in dem wäßrigen Schlamm).
Der Mönch wartete einen Moment, um zu sehen, ob Richard sich erheben und zu kämpfen beginnen würde. Aber nein.
Hunter war es, die vortrat.
Richard rappelte sich aus dem Schlamm auf und verfolgte mit offenem Mund seinen ersten Stockkampf.
Der Mönch war gut. Er war größer als Hunter und, wie Richard vermutete, kräftiger. Hunter hingegen war schneller als der Mönch.
Die hölzernen Stöcke klickten und knallten im Nebel aufeinander.
Der Stock des Mönchs traf Hunter plötzlich in die Magengrube. Sie stolperte in den Schlamm. Er kam näher – zu nah, denn er erkannte, daß es ein Täuschungsmanöver gewesen war, und ihr Stock traf ihn heftig und präzise in die Kniekehlen, und seine Beine gaben nach.
»Genug!« rief eine Stimme von der Brücke.
Hunter trat einen Schritt zurück. Sie stand neben Richard und Door.
Der große Mönch erhob sich aus dem Schlamm. Seine Lippe blutete. Er verneigte sich tief vor Hunter und ging dann zum Fuß der Brücke.
»Wer ist das, Bruder Sable?« rief die Stimme.
»Lady Door, Lord Porticos Tochter vom Hause Arch; Hunter, ihre Leibwächterin, und Richard Mayhew Naß, ihr Begleiter«, sagte Bruder Sable durch seine aufgesprungenen Lippen. »Sie hat mich in einem fairen Kampf besiegt, Bruder Fuliginous.«
»Laß sie heraufkommen«, sagte die Stimme.
Hunter ging voran zur Brücke. Auf dem Scheitelpunkt der Brücke wartete ein weiterer Mönch auf sie: Bruder Fuliginous. Er war jünger und kleiner als der erste Mönch, den sie getroffen hatten, aber genauso gekleidet. Seine Haut war von einem tiefen, satten Braun.
Weitere schwarzgekleidete Gestalten standen kaum sichtbar im gelben Nebel. Weitere Black Friars, vermutete Richard.
Der zweite Mönch starrte die drei einen Moment lang an und sagte dann:
»Wenn ich den Kopf drehe, ist der Weg frei.
Dreh’ ich ihn wieder, kommt keiner vorbei.
Ein Gesicht hab’ ich nicht, doch Zähne durchaus.
Also – wer bin ich? Wer findet’s heraus?«
Door trat einen Schritt vor. Sie leckte sich die Lippen und schloß halb die Augen. »Wenn ich den Kopf drehe …«, sprach sie grübelnd vor sich hin. »Zähne durchaus … ist der Weg frei …« Dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie blickte zu Bruder Fuliginous empor. »Ein Schlüssel«, sagte sie. »Die Antwort heißt: ein Schlüssel.«
»Sehr schlau«, sagte Bruder Fuliginous. »Damit seid ihr schon zwei Schritte weiter. Einer fehlt noch.«
Ein sehr alter Mann trat aus dem gelben Nebel und ging vorsichtig auf sie zu, wobei er sich mit seiner schwieligen Hand an der steinernen Brücke festhielt. Er blieb stehen, als er bei Bruder Fuliginous angekommen war. Seine Augen waren milchigweiß, vom grauen Star getrübt. Richard mochte ihn vom ersten Augenblick an.
»Wie viele sind es?« fragte er den jüngeren Mann mit tiefer und beruhigender Stimme.
»Drei, Vater Abt.«
»Und hat einer davon den ersten Pförtner besiegt?«
»Ja, Vater Abt.«
»Und hat einer davon dem zweiten Pförtner richtig geantwortet? «
»Ja, Vater Abt.«
»Also steht noch einem von ihnen die Bewährungsprobe bevor. Er oder sie soll jetzt vortreten.«
Door sagte: »Oh, nein.«
Hunter sagte: »Lassen Sie mich an seiner Stelle gehen. Ich werde die Bewährungsprobe machen.«
Bruder Fuliginous schüttelte den Kopf. »Das können wir nicht erlauben.«
Als Richard ein kleiner Junge war, hatte er mal auf einem Schulausflug ein Schloß in der Nähe seines Heimatortes besucht. Er war mit seiner Klasse die vielen Stufen bis zum höchsten Punkt des Schlosses hinaufgestiegen, einem teilweise verfallenen Turm. Während sie dort oben standen, erklärte ihnen der Lehrer die Landschaft, die sich unter ihnen ausbreitete.