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Selbst in jenem Alter hatte Richard bereits Höhenangst gehabt. Er hatte sich an das Sicherheitsgeländer geklammert, die Augen zusammengekniffen und versucht, nicht hinunterzusehen.

Der Lehrer hatte ihnen erzählt, daß man von der Spitze des Turms bis zum Fuß des Berges, über dem er aufragte, hundert Meter tief stürzte. Und er hatte ihnen erklärt, daß ein Groschen, den man von der Turmspitze hinunterwarf, am Fuß des Berges genug Kraft hätte, um den Schädel eines Mannes zu durchschlagen.

In jener Nacht lag Richard im Bett und stellte sich den Groschen vor, wie er mit der Kraft einer Pistolenkugel oder eines Donnerkeils hinunterfiel. Er sah immer noch aus wie ein Groschen, doch im Fallen wurde er zur Mordwaffe …

Eine Bewährungsprobe.

Bei Richard fiel der Groschen. Ein spezieller Groschen.

»Moment mal«, sagte er. »Noch mal ganz von vorn. Hm-mm: Bewährungsprobe. Da steht jemandem eine Bewährungsprobe bevor. Jemandem, der sich nicht im Schlamm herumgeprügelt hat und der es nicht geschafft hat, das ›Mein-erster-Buchstabe-findet-sich-in-Robert,aber-nicht-in-Bett‹-Rätsel zu lösen …«

Er faselte Unsinn. Er hörte sich faseln, und es war ihm völlig egal.

»Diese Bewährungsprobe«, fragte er den Abt, »wie schwer ist die? Etwa so wie ein Besuch bei einer ziemlich übellaunigen älteren Verwandten oder eher so, als würde man die Hand in siedendes Wasser tauchen, um zu sehen, wie schnell die Haut abgeht?«

»Hier entlang«, sagte der Abt.

»Bei ihm sind Sie an der falschen Adresse«, sagte Door. »Nehmen Sie eine von uns.«

»Drei von euch sind gekommen. Es gibt drei Prüfungen. Jeder von euch absolviert eine Prüfung: So ist es gerecht«, sagte der Abt. »Wenn er die Bewährungsprobe besteht, kehrt er zu euch zurück.«

Eine leichte Brise lockerte den Nebel ein wenig auf. Die anderen dunklen Gestalten waren, wie Richard es sich gedacht hatte, weitere Black Friars. Jeder Mönch hielt eine Armbrust in den Händen. Jede Armbrust war auf Richard oder auf Hunter oder auf Door gerichtet. Sie schlossen die Reihen und schnitten Richard so von Hunter und Door ab.

»Wir suchen einen Schlüssel – «, sagte Richard.

»Ja«, sagte der Abt.

»Er ist für einen Engel«, erklärte Richard.

»Ja«, sagte der Abt. Er streckte eine Hand aus und fand Bruder Fuliginous’ Armbeuge.

Richard senkte die Stimme. »Hören Sie, einem Engel kann man doch keine Bitte abschlagen, besonders nicht als Mann Gottes wie Sie … Warum lassen wir die Sache mit der Bewährungsprobe nicht einfach aus? Wenn Sie mir den Schlüssel geben, sage ich den anderen, wir hätten die Prüfung gemacht.«

Der Abt begann, die Wölbung der Brücke hinabzugehen. An ihrem Fuß befand sich eine Tür, die offenstand. Richard folgte ihm. Manchmal kann man einfach nichts tun.

»Als unser Orden gegründet wurde, wurde uns der Schlüssel anvertraut. Er ist eine der heiligsten und mächtigsten Reliquien, die es gibt. Wir müssen ihn weitergeben, aber nur an denjenigen, der die Bewährungsprobe besteht und sich als würdig erweist.«

Richard hinterließ eine Spur nassen Schlamms auf dem Weg durch die gewundenen, engen Korridore.

»Wenn ich die Prüfung nicht bestehe, dann bekommen wir den Schlüssel nicht, oder?«

»Nein, mein Sohn.«

Richard dachte kurz darüber nach. »Könnte ich es ein zweites Mal probieren?«

»Eher nicht, mein Sohn«, sagte der Abt. »Wenn das geschehen sollte, bist du aller Wahrscheinlichkeit nach …«, er zögerte und sagte dann: »… jenseits von Gut und Böse. Aber sorge dich nicht, vielleicht bist du derjenige, dem der Schlüssel zufällt, hm?«

In seiner Stimme lag etwas gespenstisch Beruhigendes, das viel erschreckender war als jeder Versuch, Richard Angst zu machen.

»Sie würden mich umbringen?«

Der Abt starrte mit milchigblauen Augen geradeaus. Seine Stimme klang ein klein wenig vorwurfsvoll. »Wir sind heilige Männer«, sagte er. »Nein, die Bewährungsprobe bringt dich um.«

Sie gingen eine Treppe hinunter in einen niedrigen Raum, eine Art Krypta mit seltsam geschmückten Wänden.

»Jetzt«, sagte der Abt. »Lächeln!«

Ein elektrischer Kamerablitz zischte auf und blendete Richard für einen Moment. Als er wieder sehen konnte, hatte Bruder Fuliginous die abgenutzte Polaroidkamera wieder gesenkt und riß gerade das Foto heraus.

Der Mönch wartete, bis es fertig entwickelt war, und dann heftete er es an die Wand.

»Das hier sind die, die es vergeblich versucht haben«, seufzte der Abt. »Wir haben ihnen eine Wand gewidmet, damit keiner von ihnen vergessen wird. Auch das ist unsere Pflicht: Gedenken.«

Richard starrte die Gesichter an. Ein paar Polaroids; zwanzig oder dreißig andere Fotos, ein paar Gummidrucke und Daguerrotypien; und danach Bleistiftskizzen und Aquarelle und Miniaturen. Sie zogen sich an der ganzen Wand entlang. Die Mönche betrieben das schon seit geraumer Zeit.

Door schauderte. »Ich bin so dumm«, murmelte sie. »Das hätte ich wissen müssen. Schließlich sind wir zu dritt. Ich hätte nicht so voreilig sein dürfen.«

Hunters Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen. Sie hatte sich die Position eines jeden Mönchs, einer jeden Armbrust eingeprägt; sie hatte das Risiko berechnet, mit dem sie Door über die Brücke schaffen konnte: erstens unverletzt, zweitens leichtverletzt, und drittens, wenn sie selber schwere, Door aber nur leichte Verletzungen erleiden würde. Jetzt rechnete sie alles noch einmal nach. »Und was hätten Sie anders gemacht, wenn Sie es gewußt hätten?« fragte sie.

»Vor allem hätte ich ihn nicht hierher mitgenommen«, sagte Door. »Ich hätte den Marquis geholt.«

Hunter legte den Kopf zur Seite. »Trauen Sie ihm?« fragte sie direkt, und Door wußte, daß sie de Carabas meinte und nicht Richard.

»Ja«, sagte Door. »Mehr oder weniger.«

Door war seit gerade zwei Tagen fünf Jahre alt. Der Markt wurde an jenem Tag in den Gärten von Kew abgehalten, und ihr Vater hatte sie mitgenommen, als Geburtstagsgeschenk. Es war ihr erster Markt.

Sie befanden sich im Schmetterlingshaus, umgeben von leuchtendbunten Flügeln, irisierenden federleichten Dingern, die sie verzauberten und faszinierten, als ihr Vater sich neben sie kauerte.

»Door?« sagte er. »Dreh dich langsam um, und schau dort hinüber, zur Tür.«

Sie drehte sich um und sah hin. Ein dunkelhäutiger Mann in einem voluminösen Mantel, das schwarze Haar zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden, stand neben der Tür und redete mit zwei goldhäutigen Zwillingen, einem jungen Mann und einer jungen Frau. Die junge Frau weinte, wie Erwachsene weinen: Sie unterdrücken es, so sehr sie können, und hassen es, wenn es sich dennoch seinen Weg bahnt und sie dabei häßlich und komisch aussehen läßt.

Door wandte sich wieder den Schmetterlingen zu.

»Hast du ihn gesehen?« fragte ihr Vater.

Sie nickte.

»Das ist der Marquis de Carabas«, sagte er. »Er ist ein Lügner und Betrüger und vielleicht sogar so etwas wie ein Ungeheuer. Wenn du je in Not bist, geh zu ihm. Er wird dich beschützen, Mädchen. Er muß.«

Und Door schaute sich noch einmal nach dem Mann um. Er hatte den Zwillingen seine Hände auf die Schultern gelegt und führte sie aus dem Raum; doch er warf einen Blick über die Schulter zurück, als er ging, und er zwinkerte ihr zu.

Die Mönche, die sie umringten, wirkten im Nebel wie dunkle Geister. Door erhob die Stimme. »Verzeihung, Bruder«, rief sie Bruder Sable zu. »Wenn unser Freund, der gegangen ist, um den Schlüssel zu holen, scheitert, was geschieht dann mit uns?«