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»Wahrscheinlich setzen sie uns neben die Küche«, seufzte Jessica. »Oder die Tür. Hast du ihnen gesagt, daß es für Mister Stockton ist?«

»Ja.«

Sie seufzte wieder.

Eine Tür öffnete sich in der Wand, ein kleines Stück vor ihnen, und jemand trat heraus, stand einen langen, schrecklichen Moment schwankend da und brach dann auf dem Beton zusammen.

Richard erschauerte.

»Also, wenn du mit Mister Stockton sprichst, paß auf, daß du ihn nicht unterbrichst. Und ihm nicht widersprichst – er mag es nicht, wenn man ihm widerspricht. Wenn er einen Witz macht, lach. Wenn du dir nicht sicher bist, ob er einen Witz gemacht hat oder nicht, sieh mich an. Ich … hmm, klopfe dann mit dem Zeigefinger auf den Tisch.«

Sie hatten die Person auf dem Gehweg erreicht. Jessica stieg darüber hinweg. Richard zögerte. »Jessica?«

»Du hast recht. Dann denkt er vielleicht, ich würde mich langweilen. Wenn er einen Witz macht, reibe ich mir das Ohrläppchen.«

»Jessica?«

»Was?«

»Schau mal.« Er zeigte auf den Gehsteig. Die Person lag mit dem Gesicht nach unten. Sie war in weite Sachen gehüllt. Jessica nahm seinen Arm und zog ihn zu sich.

»Wenn du denen auch nur die geringste Beachtung schenkst, Richard, kannst du dich vor ihnen nicht mehr retten. In Wirklichkeit haben die doch alle ein Zuhause. Wenn sie erst mal ihren Rausch ausgeschlafen hat, geht es ihr bestimmt wieder gut.«

Sie? Richard blickte nach unten. Es war tatsächlich ein Mädchen.

Jessica fuhr fort: »Also, ich habe Mister Stockton gesagt, daß wir …« Richard kniete am Boden. »Richard? Was tust du da?«

»Sie ist nicht betrunken«, sagte Richard. »Sie ist verletzt. « Er musterte seine Fingerspitzen. »Sie blutet.«

Jessica schaute nervös und verunsichert zu ihm herab. »Wir kommen zu spät«, stellte sie fest.

»Sie ist verletzt.«

Jessica sah noch einmal das Mädchen auf dem Gehsteig an. Prioritäten: Richard hatte keine Prioritäten.

Das Gesicht des Mädchens war schmutzverkrustet, und ihre Kleidung war blutdurchtränkt.

»Richard. Wir kommen zu spät.«

»Sie ist verletzt«, sagte er einfach. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck, den Jessica noch nie gesehen hatte.

»Richard«, warnte sie, und dann wurde sie ein bißchen weich und bot einen Kompromiß an. »Dann ruf einen Krankenwagen. Aber schnell.«

Die Augen des Mädchens öffneten sich, weiß und weit aufgerissen in einem Gesicht, das kaum mehr als ein einziger Schmutz- und Blutfleck war. »Nicht ins Krankenhaus, bitte. Dort finden sie mich. Bring mich irgendwo in Sicherheit. Bitte.« Ihre Stimme war schwach.

»Du blutest«, sagte Richard. Er sah nach, wo sie hergekommen war; doch die Mauer war glatt und steinern und unbeschädigt.

»Hilfst du mir?« flüsterte sie, und ihre Augen schlossen sich.

»Wenn du den Notarzt anrufst«, sagte Jessica, »sag nicht deinen Namen. Nachher mußt du noch eine Aussage machen oder so, und ich lasse mir diesen Abend nicht verderben … Richard? Was tust du da?«

Richard hatte das Mädchen aufgehoben und hielt es in seinen Armen. Es war überraschend leicht. »Ich bringe sie in meine Wohnung, Jess. Ich kann sie nicht einfach hierlassen. Sag Mister Stockton, es täte mir wirklich leid, aber es sei ein Notfall gewesen. Das versteht er bestimmt.«

»Richard Oliver Mayhew«, sagte Jessica kalt. »Du legst dieses junge Ding hin und kommst sofort wieder her. Oder unsere Verlobung ist ab sofort gelöst. Ich warne dich.«

Richard spürte die klebrige Wärme des Blutes, das sein Hemd durchnäßte. Manchmal kann man einfach nichts machen.

Er ging davon.

Jessica stand da auf dem Gehweg, sah zu, wie er ihr ihren großen Abend verdarb, und Tränen brannten in ihren Augen. Nach einer Weile war er außer Sichtweite, und da, erst da, sagte sie laut und deutlich: »Scheiße!« und schleuderte ihre Handtasche mit aller Kraft auf den Boden, mit soviel Kraft, daß ihr Handy und ihr Lippenstift und ihr Terminkalender und eine Handvoll Tampons auf das Pflaster flogen. Und dann hob sie, da es sonst nichts zu tun gab, alles wieder auf, steckte es in ihre Handtasche und ging zum Restaurant, um auf Mr. Stockton zu warten.

Während sie an ihrem Weißwein nippte, versuchte sie sich plausible Gründe dafür einfallen zu lassen, warum ihr Verlobter nicht bei ihr war, und stellte fest, daß sie verzweifelt überlegte, ob sie nicht einfach behaupten könnte, Richard sei tot.

»Es geschah ganz plötzlich«, raunte Jessica versonnen.

Während des gesamten Weges faßte Richard keinen einzigen klaren Gedanken. Seine Willenskraft hatte keinen Einfluß auf das, was er tat. Irgendwo im logisch denkenden Teil seines Kopfes sagte ihm jemand – ein normaler, vernünftiger Richard Mayhew –, wie absurd er sich verhielt, daß er einfach die Polizei hätte rufen sollen, oder einen Krankenwagen; daß es gefährlich ist, eine verletzte Person hochzuheben; daß er Jessica wirklich ernsthaft verärgert hatte; daß er heute auf dem Sofa würde schlafen müssen; daß er seinen einzigen guten Anzug verdarb; daß das Mädchen fürchterlich roch … doch ohne es zu wollen, setzte Richard einen Fuß vor den anderen, und er ging einfach immer weiter, mit eingeschlafenen Armen und Rückenschmerzen, und ignorierte die Blicke der Passanten. Und dann war er an seiner Haustür, und er schleppte sich die Treppe hinauf, und dann stand er vor seiner Wohnungstür, und ihm fiel ein, daß er den Schlüssel drinnen auf dem Flurtischchen vergessen hatte …

Das Mädchen streckte eine schmutzige Hand nach der Tür aus, und sie ging auf.

Hätte nie gedacht, daß ich mal froh sein würde, daß die Tür nicht richtig zu war, dachte Richard, und er trug das Mädchen hinein, schloß die Tür hinter sich mit dem Fuß und legte es auf sein Bett.

Sein Hemd war blutig rot.

Sie schien halb bewußtlos. Ihre Lider flatterten.

Er schälte sie aus ihrer Lederjacke. Ihr linker Oberarm und die Schulter wiesen eine lange Schnittwunde auf. Richard schnappte nach Luft.

»Hör mal, ich rufe jetzt einen Arzt«, sagte er leise. »Hörst du mich?«

Ihre Augen öffneten sich weit und angstvoll. »Bitte nicht. Das wird schon wieder. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Ich brauche nur Schlaf. Keinen Arzt.«

»Aber dein Arm – deine Schulter – «

»Morgen geht’s mir wieder gut. Ja?« Es war kaum mehr als ein Flüstern.

»Ähm, na dann, okay«, und da seine Vernunft langsam wieder die Oberhand bekam, fragte er: »Sag mal, kann ich dich was fragen – ?«

Aber sie war eingeschlafen.

Er schlich sich auf Zehenspitzen hinaus und schloß die Tür hinter sich. Dann setzte er sich aufs Sofa, vor den Fernseher, und fragte sich, was er getan hatte.

Kapitel Zwei

Er befand sich irgendwo tief unter der Erde: in einem Abwasserkanal. Hin und wieder flackerte ein Licht auf, das die Dunkelheit eher unterstrich, als sie zu vertreiben.

Er war nicht allein. Andere Menschen gingen neben ihm her.

Jetzt lief er im Innern des Abwasserkanals längs, Schlamm und Schmutz spritzten. Wassertröpfchen fielen langsam und kristallklar in der Dunkelheit nieder.

Er bog um eine Ecke, und da wartete es auf ihn.

Es war riesengroß. Es füllte das Siel völlig aus: Den massigen Kopf hielt es gesenkt, Körper und Atem dampften in der kühlen Luft. Eine Art Keiler, dachte er zuerst, doch dann erkannte er, daß das Unsinn war: Kein Keiler war so riesengroß. Es hatte die Größe eines Bullen, eines Tigers, eines Autos.

Es starrte ihn an, und es hielt hundert Jahre lang inne, während er seinen Speer hob.