Выбрать главу

In den letzten fünf Jahren starb von den einigen hundert Seelen niemand, weder eines gewaltsamen noch eines natürlichen Todes. Und wenn dort jemand vor Alter oder von einer chronischen Krankheit in den ewigen Schlaf überging, konnte man sich über einen so ungewöhnlichen Fall gar nicht genug wundern. Es fiel ihnen dabei gar nicht als etwas Besonderes auf, daß zum Beispiel der Schmied Taraß sich selbst in seiner Erdhütte fast zu Tode verbrannte, so daß man ihn mit Wasser begießen mußte, um ihn wieder zur Besinnung zu bringen.

Von den Verbrechen war eines, nämlich das Stehlen von Erbsen und Rüben aus den Gemüsegärten, sehr verbreitet, und eines Tages verschwanden zwei junge Schweine und ein Huhn - ein Ereignis, das die ganze Umgegend empörte und das einstimmig mit der am vorhergehenden Tage vorübergefahrenen Fuhrkolonne, die mit Holzgeschirr zum Markt fuhr, in Zusammenhang gebracht wurde. Sonst waren Zufälle jeder Art sehr selten. Eines Tages wurde übrigens hinter dem Gehege im Graben bei der Brücke ein liegender Mensch gefunden, der wohl zu der in die Stadt wandernden Arbeiterkolonne gehörte. Die Dorfjungen hatten ihn zuerst bemerkt und brachten ganz entsetzt ins Dorf die Nachricht, daß im Graben ein furchtbarer Drachen oder Werwolf daliege, wobei sie hinzudichteten, er hätte sie fangen wollen und hätte Kusjka fast aufgegessen. Die mutigeren Bauern bewaffneten sich mit Heugabeln und Hacken und begaben sich in einem Haufen zum Graben.

»Wohin wollt ihr?« hielten die Alten sie zurück, »sitzt euch der Kopf zu fest im Nacken? Was habt ihr dort zu suchen? Laßt's gehen; man treibt euch ja nicht hin.«

Aber die Bauern machten sich trotzdem auf den Weg und begannen fünfzig Klafter von der Stelle entfernt das Ungeheuer mit verschiedenen Stimmen zu rufen; sie erhielten keine Antwort; sie blieben stehen; dann rückten sie wieder vorwärts. Im Graben lag ein Bauer und stützte seinen Kopf auf den Hügel; neben ihm lagen ein Sack und ein Stock, auf dem zwei Paar Bastschuhe hingen. Die Bauern wagten weder nahe heranzukommen noch ihn zu berühren.

»He, Bruder!« schrien sie der Reihe nach und kratzten sich dabei bald den Nacken, bald den Rücken, »wie heißt du? Wer bist du? He, du! Was hast du hier zu suchen?«

Der Fremde machte eine Bewegung, um den Kopf zu heben, es gelang ihm jedoch nicht; er war wohl krank oder sehr müde.

Einer der Bauern wollte ihn mit der Heugabel berühren.

»Laß ihn, laß ihn!« schrien viele auf einmal, »wer weiß, wie er ist. Du siehst, er redet nicht; vielleicht ist er irgend so einer ... Rührt ihn nicht an, Kinder! Kommt«, sagten einige; »wirklich kommt; was ist er uns denn, etwa ein Vetter? Es kann einem dabei noch etwas geschehen!«

Und alle kehrten ins Dorf zurück und berichteten den Alten, daß dort ein Fremder liege, nichts spreche, und Gott weiß was er für einer sei ...

»Wenn's ein Fremder ist, dann rührt ihn nicht an!« sagten die Alten, auf der Hausschwelle sitzend und die Ellbogen auf die Knie stützend, »laßt ihn in Ruh'! Ihr hättet gar nicht hingehen sollen!«

So war der Winkel, in den Oblomow durch den Traum plötzlich zurückversetzt wurde. Von den drei oder vier dort zerstreuten Dörfchen hieß eines Sosnowka und ein zweites Wawilowka, beide in der Entfernung einer Werst voneinander gelegen. Sosnowka und Wawilowka waren das erbliche Besitztum des Geschlechts der Oblomow und waren darum unter dem gemeinsamen Namen Oblomowka bekannt. In Sosnowka befand sich das Herrschaftshaus, und es bildete die Residenz. Fünf Werst von Sosnowka entfernt lag der kleine Flecken Werchljowo, der auch einst den Oblomows gehört hatte und längst in andere Hände übergegangen war, und noch einige zu diesem Flecken gehörige, hie und da zerstreute Hütten. Der Flecken gehörte einem reichen Gutsbesitzer, der sich auf seinem Gut niemals sehen ließ; er wurde von einem Verwalter deutscher Abstammung bewirtschaftet. Das ist die ganze Geographie dieses Winkels.

Ilja Iljitsch ist des Morgens in seinem kleinen Bettchen erwacht. Er ist erst sieben Jahre alt. Ihm ist leicht und froh zumute. Wie hübsch, rotwangig und dick er ist! Solche runde Wangen bringt mancher Schelm selbst dann nicht zuwege, wenn er die seinigen mit Absicht aufbläst. Die Kinderfrau wartet auf sein Erwachen. Sie beginnt ihm die Strümpfchen anzuziehen; er widersetzt sich, tollt herum, strampelt mit den Beinen, die Kinderfrau fängt ihn, und beide lachen. Endlich ist es ihr gelungen, ihn auf die Füße zu stellen; sie wäscht ihn, kämmt sein Köpfchen und führt ihn zu der Mutter hin. Als Oblomow die längst verstorbene Mutter erblickte, erbebte er selbst im Traum vor Freude und heißer Liebe zu ihr; aus seinen Wimpern rannen im Schlaf langsam zwei warme Tränen hervor und blieben reglos stehen. Die Mutter bedeckte ihn mit leidenschaftlichen Küssen, betrachtete ihn mit gierigen, besorgten Augen, um zu sehen, ob seine Äuglein nicht trüb seien, fragte, ob ihm nichts weh tue, erkundigte sich bei der Kinderfrau, ob er ruhig geschlafen habe, ob er in der Nacht nicht erwacht sei oder sich im Schlaf nicht herumgewälzt und ob er kein Fieber gehabt habe; dann nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn zum Heiligenbild. Dort kniete sie nieder und sagte ihm, ihn mit der einen Hand umfassend, die Worte des Gebetes vor. Der Knabe wiederholte sie zerstreut und blickte durchs Fenster, aus dem Kühle und Fliederduft sich ins Zimmer ergoß.

»Mamachen, gehen wir heute spazieren?« fragte er plötzlich mitten im Gebet.

»Ja, Herzchen«, sagte sie eilig, ohne die Augen vom Heiligenbild abzuwenden, und sprach die heiligen Worte rasch zu Ende.

Der Knabe wiederholte sie träge, aber die Mutter legte ihre ganze Seele hinein. Dann gingen sie zum Vater und dann zum Tee.

Am Teetisch sah Oblomow die bei ihnen wohnende uralte, achtzigjährige Tante, die unablässig über ihre Dienerin brummte, die vor Alter mit dem Kopf wackelnd hinter ihrem Sessel stand und sie bediente. Dort waren auch die drei alten Mädchen, entfernte Verwandte seines Vaters, der ein wenig geisteskranke Schwager seiner Mutter, der bei ihnen auf Besuch wohnende Besitzer von sieben Seelen Tschekmenjew, und noch verschiedene Greise und Greisinnen anwesend. Dieser ganze Hofstaat des Hauses Oblomow fing Ilja Iljitsch auf und begann ihn mit Liebkosungen und Lobsprüchen zu überhäufen; er hatte kaum Zeit, die Spuren der ungebetenen Küsse abzuwischen. Dann begann seine Fütterung mit Semmeln, Zwieback und Sahne. Und dann, nachdem seine Mutter ihn nochmals geliebkost hatte, erlaubte sie ihm, im Garten, auf dem Hof und auf der Wiese spazierenzugehen, indem sie die Kinderfrau streng ermahnte, das Kind nicht allein zu lassen, ihn nicht in die Nähe der Pferde, der Hunde, des Ziegenbocks zu führen, nicht weit vom Haus fortzugehen und vor allem ihn nicht an den Graben heranzulassen, als an die gefürchtetste Stelle der Gegend, die einen bösen Ruf genieße. Man hatte dort einmal einen Hund gefunden, den man nur darum für toll erklärte, weil er vor den Menschen, die mit Heugabeln und Hacken auf ihn loszogen, fortrannte, und irgendwo hinter dem Berg verschwand; in dem Graben lud man die krepierten Tiere ab; im Graben setzte man Räuber, Wölfe und verschiedene andere Wesen voraus, die es weder in der Gegend noch überhaupt auf der Welt gab.

Das Kind hatte die Ermahnungen der Mutter nicht abgewartet; es war schon auf dem Hof. Es betrachtete mit freudigem Erstaunen, als wär's zum erstenmal, das Elternhaus mit dem schiefen Tor, mit dem in der Mitte gesenkten Dach, auf dem zartes grünes Moos wuchs, mit den wackelnden Stufen, mit verschiedenen Neben- und Überbauten und einem vernachlässigten Garten. Es wäre zu gerne auf die das Haus umsäumende, hängende Galerie gestiegen, um von dort aus auf den Fluß zu schauen; doch die Galerie ist alt, hält sich kaum, und auf ihr dürfen nur die Dienstboten, nicht aber die Herrschaften gehen. Es achtete nicht auf das Verbot der Mutter und wollte sich schon den verlockenden Stufen nähern, als die Kinderfrau in der Tür erschien und es mit Mühe und Not fing. Es flüchtete vor ihr zum Heuboden hin, in der Absicht, auf der steilen Treppe hinaufzusteigen, und kaum hatte sie Zeit gehabt, den Heuboden zu erreichen, als sie schon sein Vorhaben, auf den Taubenschlag zu steigen, auf den Viehhof und, was Gott verhüte, in den Graben zu gelangen, vereiteln mußte.

полную версию книги