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Dies hübsche Kind wurde immer blasser, seine Augensterne »veralgten« (Tanjas Wort dafür), es verlor seine Milchzähne vor der Zeit, die Ärzte winkten ab, ordentliche Spaziergänge würden genügen. Doch nach Spaziergängen stand Manja nicht der Sinn, auch zu Ausfahrten im Auto hatten wir sie vergeblich zu überreden gesucht. Tanja träumte wiederholt von Tod und Aufbahrung ihrer kleinen Schwester, ihr Aberglaube raubte mir schon morgens den letzten Nerv, und so beschloß ich, um jeden Preis dafür zu sorgen, daß Maryae Himmelfahrt noch lange auf sich warten lassen würde.

Ich hatte eine Idee, aber im Grunde keine Ahnung, was ich tat, als ich außerhalb unseres Wochenrhythmus’, es war ein Mittwoch, ein aberwitzig großes Paket mit aberwitzig großer Schleife mitbrachte, so groß, daß meine Arme es beim Tragen kaum umfassen konnten. Tanja sah auf mich, sah auf das Paket, sah auf mich, sie kratzte sich ausgiebig an der Nase, bevor sie sich entschloß, Manja herbeizurufen. Deren Eintritt in die Küche entbehrte nicht einer gewissen Erhabenheit: Enter Hamlet, allerdings im Kinderkleidchen.

»Wasja hat ein Geschenk mitgebracht.«

»Ein Geschenk?«

»Ein Geschenk«, wiederholte ich.

Maryas Augen hellten sich eine Sekunde auf, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Dann zuckten ihre Mundwinkel, erdenschwer. Immerhin trat sie näher an das Paket und schüttelte vorsichtig daran. Nichts. Vehementer. Nichts, kein Geräusch.

»Aber…«, sagte sie, und wußte nicht, wie sie das alles deuten sollte.

»Mach doch mal auf«, sagte Tanja.

Marya löste die Schleife, behutsam, sorgsam, sah immer wieder her zu uns, aber ihre Augen schweiften nie über unsere Körpermitten hinauf. Dann nahm sie den Pappdeckel ab und sah hinein.

»Aber das ist ja total leer.«

»Na klar«, sagte ich.

Marya starrte mich an, wußte nicht, ob ich richtig gemein sein oder sie einfach nur veräppeln wollte. Was für sie auf das gleiche hinauslief.

»Aber es ist doch ein Geschenk, warum ist es dann leer?« »Es ist ein Geschenk für mich. Es ist leer, weil du erst noch was reinlegen mußt.«

»Ich?«

»Du.«

»Aber was denn?«

»Laß mich überlegen«, sagte ich und gab mir das Aussehen eines großen Denkers, eines faltigen großen Denkers mit vielen großen Denkerfalten im Gesicht.

»Ich hab’s. Wenn du ganz traurig bist, woran denkst du dann?«

»Sag ich nicht…«

»Mußt du auch nicht. Leg’s einfach ins Paket.«

»Aber…«

»Leg’s rein, probier’s mal.«

Es dauerte einen langen Moment, bis ich entdecken konnte, daß ihre Augen und ihre Miene sich tatsächlich veränderten. Sie hatte begonnen, den Karton zu füllen. Erst schweigend, dann begann sie zu sprechen, zaghaft, und wurde immer hastiger.

»…und daß Mamuschka mir verzeiht, daß ich ihr Kleid zerrissen habe.«

»Rein damit!«

»…und daß Mamuschka im Himmel ihre Niere wieder bekommt, die ich ihr geklaut habe.«

»Hinein!«

»…und daß Mamuschka nicht immerzu weinen muß im Himmel, meinetwegen, meinetwegen.«

»Alles rein!«

Sie hielt inne.

»Und jetzt?« fragte Marya. Ihre Pupillen waren groß wie die einer Katze.

»Jetzt kommt der Deckel drauf, so, und ich nehm’s mit. Die Schleife darfst du behalten.«

»Und jetzt bin ich das alles los?«

»Jetzt bist du das alles los. Denn jetzt hab ich’s ja. Danke.« Ich schickte mich an, das Paket vom Boden zu heben, machte mich warm wie ein Gewichtheber: Kniebeugen, Armeausschütteln, Bizepsspannungen. Dann hob ich ächzend an, kam aus dem Gleichgewicht, trudelte, fing mich wieder, und stellte das Paket vor die Tür.

»Großer Gott!, ist das schwer, na kein Wunder, daß das auf dir gelastet hat, Manja.«

Ich haschte nach ihr, nahm sie auf den Arm, während sie mich noch immer mit weiten Pupillen ansah.

»Und jetzt merkt man ja auch gleich, wie leicht du geworden bist, Tantchen.«

»Danke«, sagte Tanja mit sehr sanfter Stimme, als ich das Auto startete, »danke«, und strich mit zwei Fingern der rechten Hand durch das geöffnete Fenster über meine Lippen.

Ich hatte keine Ahnung, ob mein psychologisches Laienspiel irgendetwas ausrichten würde, und wenn ja, für wie lange. Heute weiß ich, daß ich damit Erfolg hatte, wenn auch einen grundlegend anderen als den, den ich damals bezweckte. Immerhin schien mir, daß der Karton wirklich schwer geworden war, als ich ihn in meine Wohnung im elften Stock transportierte (ich brauchte ihn ja noch, an normalen Wochentagen diente er mir als Küchenschrank).

Als Tanja mich anderntags anrief, berichtete sie, Manja habe ihre Schulaufgaben bei ihr in der Küche gemacht, habe ihr den ganzen Tag bei der Hausarbeit geholfen, habe von sich aus vom Unterricht erzählt. An den Wochenenden sah ich Maryas Kopf häufiger in der Tür auftauchen. Sie sprach noch immer nicht gerade überreichlich mit mir, aber sie blieb in meiner Nähe, wenn Tanja das Zimmer verließ. Alles war gut.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht war nur aus Hamlet Ophelia geworden. Aber schon das trug dazu bei, daß sich diese kleine Familie einige Zeit verhältnismäßig im Einklang mit sich selbst befand.

Obwohl oder weil ich mit meiner Tante schlief.

Ich habe Tanja nie mehr danach gefragt. Ich bin mir sicher, sie hat mit sich gerungen. An ihr ist der mütterliche Katholizismus nicht einfach abgeperlt oder hat sich, wie bei Lesja, zu einem wilden Trotz entwickelt, der sich im Alter bestimmt wieder in fanatischen Konservatismus zurückverwandeln würde.

Daß Tanja das Verbot gereizt hätte oder das Verbotene – kaum vorstellbar. Tanja hat sich darüber hinweggesetzt, aber sie schien es um ihrer Gefühle und ihrer selbst willen getan zu haben, nicht aus Trotz. Vielleicht war es zu Beginn auch so etwas wie Willfährigkeit. Ich spürte, sie wollte mich nicht noch einmal verlieren; sie hat sich auf meine Spielregeln eingelassen, auch wenn die einen Tabubruch bedeuteten. Sie wollte mich, sagte sie, den ganzen Menschen, nicht nur den Finger, nicht nur die Hand, um welchen Preis auch immer. Verglichen mit den fünf Jahren unserer Entfremdung war es ihr wohl ein geringer Preis, den sie zahlen mußte. Auch wenn ich in ihren Augen sah, im Schrecken ohne Ende, der sich immer wieder einstellte, gerade in den kostbarsten Momenten, wenn wir ganz beim anderen sein konnten: daß der Preis für sie so gering nicht war. Ich dachte wiederholt an ein Gedicht von Rumi:

Wie sehr verlangt mich, dich zu küssen, und der Preis dieses Kusses ist dein Leben. Da eilt meine Liebe auf mein Leben zu und ruft: Was für ein günstiger Handel – greifen wir zu!

Unablässig nahm ich mir vor, mit Stanislau über meine amour fou zu reden, aber der war viel zu beschäftigt mit seiner eigenen. Wir hatten unsere Freundschaft wieder dort aufzunehmen gesucht, wo sie stehengeblieben oder steckengeblieben war. Stas war für mich Minsk geworden, die Tage unter der Woche. Unsere Wege kreuzten sich fast täglich, aber wir verabredeten uns nie gezielt. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er mich das erste Mal in sein Zimmer einlud. Es war im November 1996 und schon so kalt, daß meine Schuhe schmatzende Geräusche auf dem gefrorenen Asphalt machten. Nachdem Stanislau ein Stipendium erhalten hatte, mietete er sich bei einer Pensionistin ein, weit draußen, an dem von mir aus entgegengesetzten Ende der Stadt. Das Studentenwohnheim erschien ihm auf Dauer ein viel zu gefährlicher Ort für seine Aktivitäten.

Mit dem, was von seinem ersten Geld übriggeblieben war, hatte er sich zwei Stahlschlösser für die Tür besorgt und seiner Vermieterin eingeschärft, bei ihm nicht mehr zu putzen. Zu ihrer Beruhigung hielt er dann und wann Zimmerrundgänge für sie ab, um ihr zu zeigen, wie staubfrei und sauber doch alles war.