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Plötzlich tauchte unter den schwarzen Vögeln ein anderer, sehr seltener Geier auf, der herrlich gefärbt war. Sein Hals leuchtete schneeweiß, den Kopf zierte ein grelles Rot. Die Indianer jubelten, als sie ihn sahen, und verfolgten aufmerksam seinen Flug. Wie mir Arnak erklärte, galt dieser Vogel als der Urvater aller Geier und war der Held vieler indianischer Sagen und Legenden.

Der erste Sonnenstrahl des folgenden Tages fand uns bereits wieder auf dem Marsch. Nachdem wir von den Bergen herabgestiegen waren und das Hügelland durchquert hatten, öffnete sich vor uns eine weite, fruchtbare Steppe. Die sanften Bodenwellen waren mit hohen Gräsern bewachsen, hier und da lugte Buschwerk aus Einschnitten und Talsenken hervor, sogar Bäume gab es. Es waren Palmen mit ganz eigenartigen Blättern, wie ich sie noch nirgends gesehen hatte. Diese Blätter waren weder länglich wie die der Kokospalme, die an Mädchenzöpfe erinnern, noch glichen sie den federförmigen Blättern, sondern sahen aus wie riesige gespreizte Menschenhände oder eine Art Fächer. Die Palmen boten einen fröhlichen Anblick und waren in Abständen von mehreren hundert Schritten über die Steppe verstreut. Nirgends bildeten sie einen größeren Hain und stellten kein Hindernis für den Blick dar, den man viele Meilen im Umkreis schweifen lassen konnte.

„Prachtvoll! Ein bezauberndes Meer aus Gras! Sein Ende ist gar nicht abzusehen!” rief ich entzückt aus, als ich von einem Hügel über die schier unermeßliche Landschaft schaute.

„Das sind die Llanos, wie die Spanier sie nennen”, sagte Manauri

lächelnd. „Du möchtest ihr Ende sehen, Jan? Bis dorthin ist es sehr, sehr weit. Wenn wir immer gerade nach Süden gehen, erreichen wir nach zehn Tagen den Orinoko. Dort am Wasser stehen die Bäume dichter, aber jenseits des Flusses erstrecken sich wie-der die gleichen Llanos. Mehr als zehn Tagemärsche gibt es nur Gras und wieder Gras, bis zu den Berghängen, wo dichtes Strauch-werk wuchert und der Urwald beginnt. Anders wäre es, wenn wir uns nach Osten wendeten.”

„Wie sieht es dort aus?”

„Dort hört das Gras bereits nach zwei, drei Tagen auf und macht dem Urwald Platz, der das ganze Mündungsgebiet des Orinoko bedeckt und bis ans Meer heranreicht. Er überzieht auch das Land südlich des Flusses mit ununterbrochenem Grün. Dieser Urwald ist so riesengroß, daß niemand seine Grenzen kennt. Man sagt, daß ein halbes Menschenleben nicht ausreichen würde, um sein Dunkel zu durchqueren. Riesige Flüsse bahnen sich darin ihren Weg, und die Indianerstämme, die in den Tiefen des Waldes hausen, sind gar nicht zu zählen. Die einzelnen Stämme unterscheiden sich sehr. Es gibt friedliebende und grausame; manche gleichen mehr wilden Bestien als Menschen, andere sind wohlhabend, und wieder andere leben im tiefsten Elend. Es verbergen sich dort auch Stämme, die mehr Gold besitzen, als wir Mais haben, und sich Hütten aus purem Gold bauen. . .”

„Du meinst sicher den Reichtum der Inkas”, unterbrach ich ihn. „Die Spanier haben dieses Volk längst unterjocht und alles Gold gestohlen.”

„Die meine ich nicht. Der Stamm, von dem ich spreche, wurde bisher noch nicht unterworfen und heißt Manoa, genau wie die Stadt, die er aus purem Gold erbaut hat.”

„Das klingt sehr nach einem Märchen!”

„Vielleicht ist es ein Märchen, doch wer will es wissen? Unter den Arawaken ist so mancher Raubzug der Spanier aus längst vergangenen Zeiten überliefert, und so ist es auch bekannt, daß sie den Caronifluß hinaufgezogen sind, um Manoa zu erobern und das Gold zu erbeuten. Fest steht, daß sie in die Stadt eingedrungen sind, doch ist kaum einer zurückgekommen"„Und der goldführende Caroni existiert wirklich?’

„Natürlich existiert er, Jan. Er mündet von Süden her in den Orinoko, bevor sich dieser in viele Arme gabelt und Tausende Inseln entstehen läßt. Ja, er ist freigebig, der Urwald im Süden, dieser furchtbare Urwald voller Geheimnisse!”

„Euer Pomerun fließt auch durch diesen Urwald?”

„Ja, nur näher der Mündung des Orinoko, ungefähr zehn bis zwölf Tagemärsche südlich davon. Die Arawaken haben ihre Felder den endlosen Waldgebieten im Süden abgerungen.” Während wir uns über ferne Flüsse und den rätselhaften Urwald unterhielten, dessen tropische Pracht mich lockte, obgleich ich mir schwer eine Vorstellung davon machen konnte, tauchten wir in das hohe Gras der Llanos ein. Die Regenzeit der Sommermonate war gerade vorüber, und die Gräser wucherten üppig. Stellenweise überragten sie unsere Köpfe, meistens reichten sie uns bis zur Hüfte, strichweise waren sie nur kniehoch. Nach indianischem Brauch gingen wir im Gänsemarsch, und wer an der Spitze war, bahnte für die folgenden den Pfad, indem er die Halme vor sich mit einem langen Messer abschnitt, wenn sie zu dicht standen.

Als die Sonne über den Horizont emporstieg, verbreitete sich eine angenehme Wärme, doch bereits zwei, drei Stunden später setzte uns die schier unerträgliche Hitze arg zu. Der bis dahin azurblaue Himmel nahm eine bleifarbene, nebelhafte Färbung an, Windstöße jagten über die Steppe wie Wellen über das Meer.

Manauri, der an der Spitze ging, verhielt plötzlich, gab durch Zeichen zu verstehen, daß wir uns ruhig verhalten sollten, und winkte mich zu sich heran.

„Sieh dir das an.” Er deutete auf die Erde und tat einige Schritte nach vorn.

Dort waren frische Spuren zu sehen, ein Zeichen, daß vor kurzer Zeit Tiere vorbeigezogen waren.- Nach den Fährten im Gras zu urteilen, mußten es größere Tiere gewesen sein, und zwar eine ganze Herde.

„Gibt es hier Bisons?” fragte ich den Häuptling.

Es zeigte sich, daß weder Manauri noch seine Gefährten wußten, was Bisons sind. Als ich sie ihnen beschrieb, erklärten sie, daß solche Tiere in der Gegend überhaupt nicht zu finden seien.

„Was könnten es dann für Bestien sein? Welch neues Rätsel taucht hier wieder auf?”

Die mit der hiesigen Natur engvertrauten Indianer zerbrachen sich vergebens den Kopf und konnten sich nicht einig werden.

Die Spuren kreuzten unseren Pfad in schräger Linie und führten ungefähr in der gleichen Richtung weiter, in der auch wir uns bewegten. Da es also keine große Abweichung bedeutete, folgten wir der Fährte.

Wir hatten kaum hundert Schritt zurückgelegt, als ich den Kot eines der Tiere auf der Erde bemerkte. Nun wurde mir alles klar: Hier zog eine Rinderherde entlang. Sie konnte nicht weit sein. Gleich darauf entdeckten wir sie etwa eine Meile vor uns. Es waren mehr als fünfzig Tiere, die langsam durch den Llano zogen. „Frisches Fleisch!” Die Augen des Häuptlings leuchteten.

„Wo eine Herde ist, dort können auch Spanier sein”, entgegnete ich.

Meine Warnung klang jedoch nicht sehr entschieden; denn wie allen andern, so lief auch mir das Wasser im Mund zusammen.

Wir faßten den Entschluß, ein oder zwei Tiere zu erlegen, doch schien es uns sicherer, die Fährte zu verlassen und uns der Herde von der Seite zu nähern. Aufmerksam suchten wir mit den Augen die Umgebung ab, ob auch keine Menschen in der Nähe seien.

„Jan, was ist das?” stieß Arnak plötzlich hervor und deutete in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

Ungefähr zwei Meilen entfernt erspähten wir einen eigenartigen dunklen Punkt, der sich bewegte. Sollte es eine zweite Herde sein? Ich hatte kaum das Fernrohr ans Auge gesetzt, als sich das Geheimnis klärte: Dort hinten jagten mehrere Reiter im Galopp über die Steppe. Ich schrie den Gefährten meine Beobachtung zu. Zwar folgten die Reiter nicht unserer Spur, sondern der des Viehs, doch war das ein geringer Trost, denn ebendeshalb mußten sie nach kurzer Zeit auf uns stoßen. Es blieb nur eine Möglichkeit, dieser Begegnung zu entgehen.