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Vor unseren Augen lag der mächtige Strom in seiner ganzen Pracht — und bereitete uns eine gewaltige Enttäuschung. Auf der riesigen Fläche gab es weder eine Spur von einem Boot noch von einem Lebewesen, nur unzählige Wasservögel tummelten sich in der Luft und auf den Wellen, und hier und dort schnellte ein Flußdelphin aus der Tiefe empor.

Nach einer Stunde verhielt das Wasser des Flusses seinen Lauf und begann bald darauf in die entgegengesetzte Richtung zu strömen: die Flut hatte eingesetzt. Da wir immer langsamer vorankamen und die Ruderer nach der durchwachten Nacht und den vorangegangenen aufregenden Tagen eine Ruhepause nötig hatten, fuhren wir an einer geeigneten Stelle ans Ufer, nahmen eine Stärkung zu uns und schliefen vier Stunden.

Gegen Mittag ließ die Strömung nach. Ungeachtet der erbarmungslosen Hitze setzten wir die Fahrt fort. Der leichte, vom Meer her wehende Wind erfrischte uns ein wenig, und trotzdem mußten wir die ganze Kraft aufbieten, um die Ruder richtig zu handhaben und nicht vor Glut ohnmächtig zu werden. Als sich die Strömung wieder gewendet hatte und dem Meer zustrebte, glitten wir wieder so schnell dahin wie in der Nacht.

Bald darauf erreichten wir die erste kleine Siedlung der War-raulen, die nur aus wenigen Hütten bestand. Die vom Fluß aus sichtbaren Behausungen erhoben sich auf einer etwas höher gelegenen kleinen Lichtung. Es fiel uns auf, daß nirgends ein Mensch zu sehen war. Arnak, dessen Boot dem Ufer am nächsten lag, erhielt den Auftrag, Nachrichten einzuholen, doch kaum war er bei den Hütten angelangt, als er uns aufgeregte Zeichen gab. Schnell fuhren wir ans Ufer und liefen zu ihm.

Auf den ersten Blick war zu sehen, daß die Siedlung vor kurzem überfallen worden war. Zwar standen die Hütten unberührt, aber zwischen ihnen und dem Urwald fanden wir die Leichen eines Indianers und dreier Frauen. Wir konnten uns gut vorstellen, was sich hier vor wenigen Stunden ereignet hatte. Die Bewohner der Siedlung waren von den Angreifern überrascht worden und hatten versucht, in den Urwald zu fliehen; ihre Feinde aber hatten sie eingeholt und mit den Keulen erschlagen.

„Unsere Befürchtungen bewahrheiten sich”, sagte ich leise.

Nicht einmal die Kinder hatten die Akawois verschont. Ein Stückchen weiter lagen zwei kleine Jungen mit abscheulich zertrümmerten Schädeln. Eilig durchsuchten wir die nächste Umgebung, konnten aber niemanden entdecken.

„Wenn jemand am Leben geblieben ist”, äußerte Konauro, „so haben sie ihn sicher gefangengenommen und mitgeführt.” „Ich möchte wissen, warum sie die Hütten nicht angesteckt haben”, fragte Wagura mit verwundertem Gesicht.

„Damit der Rauch sie nicht verrate”, erklärte ich ihm.

Die Hütten ihrem Schicksal überlassend, schleppten wir vom Waldrand riesige trockene und grüne Äste herbei, entzündeten ein mächtiges Feuer und eilten zu unseren Booten. Hinter uns stiegen dichte schwarze Rauchwolken zum Himmel, ein weithin sichtbares Zeichen der Warnung. Unsere Herzen waren von grimmiger Wut erfüllt, die die Arme der Ruderer zur Eile trieb.

Zwei Stunden waren vergangen, als plötzlich jemand in meinem Boot ausrief: „Achtung, seht dorthin!”

Durch die tarnenden Zweige hindurch deutete er auf etwas Verdächtiges, ganz weit vor uns.

„Seht, dort!” wiederholten einige Stimmen in den anderen Booten.

Tatsächlich hob sich auf der weiten Wasserfläche ein eigenartiger dunkler Fleck ab. Es war ein Strauch, der im Wasser lag. An diesem Tage trieben viele dem Land entrissene Bäume und Sträucher dem Meer entgegen, aber dieser Strauch verhielt sich merkwürdig. Er schwamm nicht mit dem Strom, sondern gegen ihn, kam langsam näher und hielt auf uns zu. Im Fernrohr konnte ich erkennen, daß sich hinter dem Gezweig ein kleines Boot verbarg. Nach einigen Minuten stellten wir fest, daß es sich um eine der Jabotas handelte, die zur Verfolgung der Akawois ausgeschickt worden waren. Wir gaben den Ruderern des Bootes das verabredete Zeichen.

Als sie uns erreichten, erhielten wir eine genaue Nachricht über die Akawois. Sie befanden sich etwa zehn Meilen vor uns und fuhren in großer Eile stromabwärts.

„Wie weit ist es von hier bis Kaiiwa?” fragte ich Fujudi.

„Wenn man danach rechnet, was die Weißen Meile nennen, so sind es ungefähr siebzig.”

„Vielleicht gelingt es uns, sie vorher einzuholen, was meint ihr?” wandte ich mich an die Krieger in den Itauben neben unserem Boot.

„Wir holen sie ein, natürlich holen wir sie ein!” riefen sie. „Habt ihr sie gezählt?” fragte ich die Kundschafter. „Wieviel Akawois sind in den Booten?”

„Es sind achtmal soviel wie Finger an beiden Händen. Sie haben neun Itauben.”

„Für achtzig Menschen neun Itauben? Wozu so viele Boote?” „Es sind keine großen Itauben, sie sind kleiner als unsere. Acht Boote fahren vor uns her, entlang des südlichen Ufers.”

„Hast du nicht von neun Booten gesprochen?”

„Das neunte Boot, das größte, ist heute morgen, noch vor Sonnenaufgang, auf die andere Flußseite gefahren. Dort haben wir es aus den Augen verloren.”

„Sie haben sich also in zwei Gruppen geteilt? Das schadet nichts. Wir verfolgen die in den acht Booten!”

Wir ruderten aus allen Kräften.

„Was war das für ein großer Rauch hinter euch?” erkundigte sich einer der Späher.

„Ah, ihr habt ihn bemerkt? Das ist gut so.”

In den Nachmittagsstunden erreichte die schwüle Hitze ihren Höhepunkt. Um diese Zeit lagen die Menschen gewöhnlich im Schatten, betäubt von der sengenden Glut. Die Sonne war über unseren Kopf hinweggewandert und brannte nun auf den Rücken. Ich bewunderte die Disziplin, die Härte und den guten Willen der Krieger, die trotz der höllischen Hitze in ihren Anstrengungen nicht nachließen. Wir preßten krampfhaft die Lippen aufeinander und ruderten schweigend und verbissen. Der Schweiß rann uns in Strömen den Körper herab.

Ein Mann in Jaks Itauba erblickte als erster die fremden Boote, aber nicht vor uns, sondern hinter uns. Es gab viele Indianer, deren Augen von ungewöhnlicher Sehschärfe waren. Und doch blieb es mir ein Rätsel, wie er auf dieser gleißenden Wasserwüste, in der sich mit sprühenden Funken und flackernden Strahlen Tausende Nachmittagssonnen spiegelten, die Boote zu erkennen vermochte. Jedenfalls hatte er sie erspäht.

„Die Akawois!” ging es durch die Reihen der Ruderer. „Dort sind die Akawois!”

Auch durch das Fernrohr waren sie nicht leicht auszumachen. Der Orinoko war hier fünf bis sechs Meilen breit, und die Punkte, die wir bemerkt hatten, schwammen etwa vier Meilen weit hinter uns. Sie hielten auch nicht genau unsere Richtung, sondern bewegten sich quer über den Fluß, vom jenseitigen Ufer zu unserem. Ich zählte vier Boote.

„Vielleicht sind es nicht die Akawois?” äußerte jemand. „Sie hatten doch nur ein Boot.”

Die Entfernung, die uns trennte, war zu groß, um Einzelheiten unterscheiden zu können. In den rätselhaften Booten befanden sich vielleicht fünfzig Indianer, und alle ruderten; die Akawois aber, die im Morgengrauen an das jenseitige Ufer gefahren waren, konnten höchstens fünfzehn an der Zahl gewesen sein. Wer waren also diese Leute? Sollten doch mehrerer akawoische Boote ans andere Ufer gelangt sein? Oder waren es Warraulen?

Nach einigem Überlegen beschlossen wir, das Rudern einzustellen und die fremden Boote herankommen zu lassen. Diese fuhren nun, da sie den Strom überquert hatten, in einer Entfernung von etwa zweihundert Schritt auf unserer Seite das Ufer entlang. Ich befahl deshalb, in einer Reihe hintereinander zu fahren und die fraglichen Boote zwischen uns und dem Ufer durchzulassen. Wir brauchten keine Furcht zu haben, daß man uns vorzeitig entdecken könnte, denn unsere Itauben waren so geschickt getarnt, daß sie, auch aus der Nähe, wie langsam dahintreibende kleine Inseln aussahen. Solche Inseln, allerdings echte, waren nicht selten in unserer Umgebung.

Die vier Boote näherten sich rasch. Wir beobachteten sie ununterbrochen durch das Fernrohr, und als sie nur noch eine halbe Meile von uns entfernt waren, rief einer unserer Ruderer plötzlich: „Das sind ja Gefangene!”