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Die Andacht hatte gar keine Lust dazu, aber sie folgte. Denn sie hatte vor Berta Angst.

"Sie", sagte Berta, "ich habe zwar mein Zimmer drei Treppen höher, unterm Dach. Aber ich merke trotzdem, daß hier irgendwas nicht stimmt. Wollen Sie mir gefälligst erklären, warum das Kind in der letzten Zeit so blaß aussieht und solche Ringe unter den Augen hat? Und warum es früh nicht aus dem Bett will?"

"Pünktchen wächst", meinte die Andacht. "Sie müßte Lebertran einnehmen oder Eisen."

"Sie sind mir schon längst ein Haar in der Suppe", sagte Berta. "Wenn ich mal dahinterkäme, daß Sie Heimlichkeiten haben, dann trinken Sie den Lebertran, und zwar gleich mit der Flasche!"

"Sie sind mir ja viel zu gewöhnlich, Sie können mich nicht beleidigen", bemerkte das Kinderfräulein und rümpfte die Nase.

"Ich kann Sie nicht beleidigen?" fragte die dicke Berta und erhob sich. "Das wollen wir doch sehen. Sie Schafsnase, Sie hinterlistige Hopfenstange, Sie können ja aus der Dachrinne Kaffee trinken, Sie impertinentes Gespenst, Sie..."

Fräulein Andacht hielt sich beide Ohren zu, kniff vor Wut die Augen klein und schob wie eine Giraffe durch den Korridor.

Die vierte Nachdenkerei handelt:

Vom Mut

Ich möchte an dieser Stette ein bißchen über den Mut reden. Anton hat eben einem Jungen, der größer ist als er, zwei Ohrfeigen gegeben. Und da könnte man ja nun meinen, Anton habe Mut bewiesert. Es war aber gar nicht Mut, es war Wut. Und das ist ein kleiner Unterschied, nicht nur im Anfangsbuchstaben.

Mut kann man nur haben, während man kaltes Blut hat. Wenn sich ein Arzt, um zu probieren, ob er recht hat, lebensgefährliche Bakterien einspritzt und anschließend mit einem Gegenmittel impft, das er entdeckt hat, zeigt er Mut. Wenn ein Polarforscher, um Entdeckungen zu machen, mit ein paar Hundeschlitten nach dem Nordpol kutschiert, beweist er Mut. Wenn Professor Piccard mit einem Ballon in die Stratosphäre aufsteigt, obwohl noch niemand vorher dort oben war, dann ist er mutig.

Habt ihr die Sache mit Professor Piccard verfolgt? Das war interessant. Er wollte wiederholt aufsteigen, aber dann unterließ er es wieder, weil das Wetter nicht geeignet war. Die Zeitungen machten sich schon über ihn lustig. Die Leute lachten schon, wenn sie seine Fotografie sahen. Aber er wartete den geeigneten Moment ab. Er war so mutig, daß er sich lieber auslachen ließ, als eine dumme Handlung zu begehen. Er war nicht tottkühn, er war nicht verrückt, er war ganz einfach mutig. Er wollte etwas erforschen, er wollte nicht berühmt werden.

Mut beweist man nicht mit der Faust allein, man braucht den Kopf dazu.

Fünftes Kapitel

Jeder sein eigener Zahnarzt

Direktor Pogge war noch in seiner Spazierstockfabrik. Die gnädige Frau lag noch im Schlafzimmer und vertrieb sich die Zeit mit Migräne. Fräulein Andacht saß in ihrer Stube.

Pünktchen und Piefke waren bis zum Abendessen allein. Pünktchen holte bei der dicken Berta weiβen Zwirn und sagte zu dem Dackel, der etwas müde in seinem Körbchen hockte: "Nun paß mal auf, mein Kleiner!" Piefke paßte auf. Er war, solange er müde war, ein folgsamer Hund.

Das Kind riß etwas Zwirn von der Rolle, schlang das eine Ende in einern Knoten um den wackligen Zahn und befestigte das andere Ende an der Türklinke. "Jetzt wird's Ernst", sagte Pünktchen und machte "Brrrr!" Dann ging sie allmählich von der Tür weg, bis der Zwirnsfaden straff gespannt war. Sie ruckte ein wenig an, stöhnte erbärmlich und schnitt ein verzweifeltes Gesicht. Sie ging wieder zur Tür, der Zwirn wurde wieder locker. "Piefke, Piefke" erklärte sie, "das ist kein Beruf für mich." Dann lief sie noch einmal von der Tür fort, aber sie jammerte schon bevor der Faden straff war.

"Ausgeschlossen", sagte sie, "wenn der Junge hier wäre, würde ich's vielleicht riskieren." Sie lehnte sich an die Tür und dachte angestrengt nach. Dann knotete sie den Zwirn von der Klinke los.

"Gib mal Pfötchen", befahl sie. Aber das konnte Piefke noch nicht. Pünktchen bückte sich, hob den Dackel hoch und setzte ihn auf ihr kleines Schreibpult. Sie band das freie Fadenende um Piefkes linkes Hinterbein. "Und nun spring runter!" bat sie. Piefke rollte sich statt dessen zusammen und gedachte auf dem Pult einen langen Schlaf zu tun.

"Spring runter!" murmelte Pünktchen drohend und schloß, dem Schicksal ergeben, die Augen.

Der kleine Dackel spitzte, so gut das bei seinen Löffeln möglich war, die Ohren. Aber vom Springen war nach wie vor keine Rede. Pünktchen öffnete die Augen wieder. Die auf Vorrat ausgestandene Angst war umsonst gewesen. Da gab sie Piefke einen Stoß, und nun blieb ihm nichts weiter übrig: er sprang auf den Boden. "Ist der Zahn raus?" fragte sie ihn. Der Hund wußte es auch nicht. Pünktchen griff sich in den Mund. "Nein", sagte sie. "Der Faden ist zu lang, mein Sohn."

Da kletterte sie mit Piefke unterm Arm auf den Schemel, der vor dem Pult stand; dann bückte sie sich und setzte den Hund wieder aufs Pult. "Wenn das nicht hilft", murmelte sie, "laß ich mich chloroformieren." Sie gab Piefke einen kleinen Stoß, er rutschte das Pult hinab, Pünktchen stellte sich kerzengerade. Der Hund segelte über die Pultkante ins Parterre.

"Au!" schrie das Kind. Es schmeckte Blut. Piefke hoppelte in den Korb. Er war froh, daß er nicht mehr angebunden war. Pünktchen wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. "Junge, Junge", sagte sie und suchte ein Taschentuch. Schließlich fand sie eines, schob es in ihren Mund und biß darauf. Der Zwirnsfaden hing über den Korbrand. Ein kleiner weißer Zahn lag mitten im Zimmer. Pünktchen befreite den Hund von seinem Zwirn, hob den Zahn auf und tanzte durch das Zimmer. Dann sauste sie zu Fräulein Andacht.

"Der Zahn ist raus, der Zahn ist raus"

Fräulein Andacht bedeckte rasch ein Stück Papier, in der rechten Hand hielt sie einen Bleistift. "So?" sagte sie. Das war alles.

"Was ist mit Ihnen los?" fragte Pünktchen. "Sie sind seit ein paar Tagen sehr komisch, merken Sie das nicht selbst? Wo brennt's denn?" Sie stellte sich neben das Kinderfräulein, schielte heimlich nach dem Papier und sagte, als sei sie ihr eigner Großvater: "Na, nun schütten Sie mal Ihr Herz aus."

Fräulein Andacht hatte keine Lust zu beichten. "Wann hat Berta eigentlich Ausgang?" fragte sie.

"Morgen", erklärte Pünktchen. "Und wozu wollen Sie das wissen?"

"Nur so", sagte das Fräulein.

"Nur so!" rief Pünktchen aufgebracht. "Solche Antworten hab ich gern." Aber aus dem Fräulein war heute nichts herauszubringen. Jedes Wort kostete einen Taler. Da ließ sich Pünktchen, als ob sie gestolpert sei, gegen den Arm des Fräuleins fallen. Das Papier wurde sichtbar. Es enthielt lauter mit Bleistift gezogene Vierecke. 'Wohnzimmer' stand in dem einen Viereck, 'Arbeitszimmer' in dem andern. Aber dann lagen schon wieder die großen dürren Hände des Fräuleins darüber.

Pünktchen wußte nicht, was sie davon halten sollte, und dachte: Das muß ich heut abend Anton erzählen, vielleicht versteht der's.

Anderthalb Stunden später lag das Kind im Bett. Die Andacht saß daneben und las das Märchen vom Swinegel und seiner Frau vor. "Da haben Sie's", meinte Pünktchen "die beiden Schweinigel sehen aus wie Zwillinge. Ich hatte schon ganz recht, heute mittag. Wenn ich ein Zwilling wäre und der andere Zwilling hieße Karlinchen, dann könnten wir in der Turnstunde auch jedes Wettrennen gewinnen.

Dann kamen die Eltern ins Kinderzimmer. Die Mutter trug ein schönes seidenes Abendkleid und goldene Schuhe, und der Vater war im Smoking. Sie gaben der Tochter je einen Gutenachtkuß, und Frau Pogge sagte: "Schlaf gut, meine Süße.

"Wird gemacht", erklärte Pünktchen.

Der Vater setzte sich auf den Bettrand, aber seine Frau drängte: "Komm, der Generalkonsul liebt die Pünktlichkeit."