Petrows Miene blieb ernst, aber seine Augen funkelten vergnügt.
»Das ist einer der vielen Gründe, warum ich Sie mag, Austin. Sie sind ein Ausbund an Galanterie. Ein Ritter in glänzender Rüstung.«
»Danke für das Kompliment, aber wir haben nicht viel Zeit, Petrow.«
»Das stimmt. Haben Sie irgendwelche Vorschläge?«
»Ja«, schaltete Zavala sich ein. »Hat Veronika eine Telefonnummer?«
»Das können Sie sie selbst fragen«, erwiderte Petrow.
Er leerte sein Wodkaglas, schraubte den Verschluss wieder auf die Flasche und klemmte sie sich unter den Arm. Dann verließ er mit den anderen den Raum und das Gebäude. Ein Fahrer mit Wagen wartete auf sie.
»Wir haben noch ein wenig Sondergepäck«, sagte Austin. Er deutete auf zwei überdimensionierte Koffer. »Bitte gehen Sie besonders vorsichtig damit um.«
»Alles wird ordnungsgemäß weitergeleitet.«
Sie stiegen in den Wagen, der sie zu der dem Meer zugewandten Seite des Flughafens und weiter zu einem breiten, durchhängenden Pier brachte. Ein Boot, etwa zwanzig Meter lang, war am Ende des Piers vertäut. Mehrere Männer warteten an der Gangway.
Austin stieg aus dem Wagen und erkundigte sich nach der Bedeutung der Worte in kyrillischer Schrift auf dem weißen Rumpf.
»Arctic Tours. Es ist ein real existierendes Reiseunternehmen, das reiche Amerikaner für horrende Geldsummen zu den gottverlassensten Orten bringt. Ich habe das Boot für ein paar Tage gechartert. Falls jemand fragt, zeigen wir ein paar Pfadfindern unsere schöne Natur.«
Während Petrow die beiden Männer über die Gangway begleitete, sah Austin zu seiner Erleichterung, dass ihr Gepäck wie durch Zauberhand an Deck gebracht worden war. Viel hatten sie nicht mitgenommen, jeder nur einen Seesack und die beiden Koffer, die laut Austin sorgfältig behandelt werden sollten.
Petrow führte sie zur Hauptkabine. Austin brauchte sich nur kurz umzusehen, um zu erkennen, dass dies kein Ausflugsboot war. Der größte Teil der normalen Möblierung war entfernt worden, bis auf einen großen, am Boden festgeschraubten Tisch in der Mitte und gepolsterte Bänke an den Seiten. Dimitri und Veronika saßen zusammen mit vier Männern in Tarnanzügen auf der Bank. Sie waren damit beschäftigt, eine eindrucksvolle Kollektion von automatischen Waffen zu reinigen.
»Wie ich sehe, bereiten Ihre Pfadfinder sich darauf vor, ihre Leistungsprüfung im Scharfschießen abzulegen. Was denkst du, Joe?«
»Ich interessiere mich viel mehr für die Pfadfinderin«, erwiderte Zavala. Er ging hinüber und begann mit der jungen Russin eine Unterhaltung.
Austin warf Petrow einen fragenden Blick zu.
»Ich weiß, dass Sie meinten, ein möglichst unauffälliges Auftreten sei notwendig«, erklärte Petrow. »Das ist auch meine Meinung. Diese Leute sind nur eine Art Rückversicherung. Sehen Sie, es sind nur sechs an der Zahl. Keine Armee.«
»Sie haben aber mehr Feuerkraft, als beide Seiten während der Schlacht von Gettysburg zusammen«, stellte Austin fest.
»Möglicherweise brauchen wir sie«, sagte Petrow. »Kommen Sie in meine Kabine, damit ich Sie auf den neuesten Stand bringen kann.«
Petrow ging voraus zu einer kleinen Kabine und nahm dort einen dicken Umschlag von der Schlafkoje. Er holte einige Fotografien aus dem Umschlag und reichte sie Austin, der sie ins Licht hielt, das durch das Bullauge hereindrang. Die Fotos zeigten verschiedene Ansichten von einer langen, grauen Insel mit einem donutförmigen Berg in der Mitte.
»Ivory Island?«, fragte er.
»Die Fotos wurden während der letzten Tage von Satelliten geschossen.« Petrow angelte ein kleines Vergrößerungsglas aus der Tasche. Er deutete auf eine Einbuchtung an der Südseite der Insel. »Das ist der natürliche Hafen, den der Eisbrecher benutzt, der den Nachschub bringt und die Expedition transportiert. Das Schiff hat Karla Janos hier vor zwei Tagen abgesetzt, um sie zu einer Expeditionsgruppe zu bringen, die bereits seit einiger Zeit auf der Insel arbeitet.«
»Und was ist die Aufgabe dieser Expedition?«
»Reinste Science-Fiction. Ein paar verrückte Russen und Japaner hoffen, DNS eines Wollhaarmammuts zu finden, mit dem sie ein lebendiges Exemplar klonen können. Sehen Sie, auf der anderen Seite der Insel, wo der Permafrost abgetragen wurde, befinden sich natürliche Buchten.«
Austin entdeckte in einer dieser Buchten eine längliche Form. »Ein Boot?«
»Wer immer es sein mag, wollte nicht gesehen werden, sonst hätte er den natürlichen Hafen benutzt. Ich glaube, dass die Mörder eingetroffen sind.«
»Wie schnell können wir dort sein?«
»In zehn Stunden. Das Boot schafft vierzig Knoten, aber die Entfernungen hier sind riesig, und wir könnten durch Treibeis aufgehalten werden.«
»So viel Zeit haben wir nicht.«
»Das ist richtig. Deshalb haben wir einen Ersatzplan vorbereitet.« Er schaute auf seine Uhr. »In einer Dreiviertelstunde kommt ein Wasserflugzeug vom Festland. Nach dem Auftanken fliegt es Sie und Zavala zum Eisbrecher Kotelny, der zwischen der Wrangelinsel und dem Polareis liegt. Ein Flug von etwa drei Stunden. Der Eisbrecher bringt Sie dann nach Ivory Island.«
»Was ist mit Ihnen und Ihren Freunden?«
»Wir starten zum gleichen Zeitpunkt wie Sie und hoffen, irgendwann morgen einzutreffen.«
Austin streckte Petrow eine Hand entgegen. »Ich kann Ihnen nicht genug danken, Iwan.«
»Eigentlich sollte ich mich bei Ihnen bedanken. Gestern war ich noch im Begriff, in meinem Moskauer Büro zu versauern. Und heute bin ich schon unterwegs, um eine schöne Frau aus großer Not zu retten.«
»Ich könnte Probleme haben, Zavala von hier wegzulocken«, sagte Austin.
Wie sich herausstellte, waren seine Befürchtungen unbegründet. Als er in die Hauptkabine zurückkehrte, unterhielt Zavala sich mit einem der Männer über seine Waffe. Veronika und Dimitri saßen ein wenig abseits und waren in ein lebhaftes Gespräch vertieft.
»Tut mir leid, die junge Liebe zu stören«, sagte Austin.
»Das braucht es nicht. Petrow hat versäumt, mich darauf aufmerksam zu machen, dass Veronika und Dimitri verheiratet sind. Und zwar miteinander. Wohin geht’s?«
Austin erläuterte Petrows Plan, und sie gingen hinaus auf den Pier, um zu warten. Das Wasserflugzeug erschien eine Viertelstunde früher als erwartet. Es begab sich auf eine Position am Tankanschluss am Ende des Piers. Austin überwachte das Verladen seines Gepäcks, während das Flugzeug aufgetankt wurde, dann stiegen er und Zavala in die Maschine. Kurz darauf jagte es über die Bucht, hob die Nase und stieg in scharfem Winkel über die zerklüfteten grauen Bergspitzen, die die Bucht umschlossen, dann ging es auf nördlichen Kurs ins Ungewisse.
25
Karlas Augenlider öffneten sich flatternd. Sie sah nur Schwärze, aber Sinne, die vorübergehend abgeschaltet worden waren, erwachten nach und nach zum Leben. Sie hatte einen Kupfergeschmack von altem Blut im Mund. Ihr Rücken fühlte sich an, als läge er auf einem Nagelbrett. Dann hörte sie in nächster Nähe ein Rascheln. Sie erinnerte sich an ihren Angreifer mit den gelben Zähnen. Immer noch nur halb bei Bewusstsein, hob sie ihre Arme und schlug in der Dunkelheit um sich, um ihren unsichtbaren Angreifer abzuwehren.
»Nein!«, schrie sie ängstlich und wütend zugleich.
Ihre wild rudernden Arme trafen auf Fleisch. Eine große Hand mit Fingern wie Stahl legte sich auf ihren Mund. Eine Lampe blitzte auf. Ihr Lichtstrahl beleuchtete ein körperloses Gesicht, das vor ihr in der Dunkelheit schwebte.
Sie brach ihren Kampf ab. Das markante Gesicht war dramatisch gealtert, seit sie es das letzte Mal gesehen hatte. Da waren mehr Falten und eine allgemeine Schlaffheit der Haut, die mal so glatt und straff wie ein Trommelfell gewesen war. Die aufmerksamen Augen waren von Krähenfüßen, Tränensäcken und weißen Brauen umrahmt, aber die Iris zeigte das gleiche durchdringende Blau wie in ihrer Erinnerung. Er nahm die Hand von ihrem Mund.