Karla warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf die Gestalten.
»Du hast Recht. Gehen wir lieber weiter, ehe ich es mir noch anders überlege.«
Sie kehrten um. Sie hatten nur wenige Schritte gemacht, als sie Männerstimmen hörten, die russisch sprachen. Grisha und seine Männer hatten die Öffnung im Haupttunnel gefunden. Schroeder und Karla mussten abermals kehrtmachen und die andere Richtung einschlagen.
Schroeder verfiel in einen humpelnden Trab. Diese Gangart verstärkte den Druck auf sein geschwollenes Fußgelenk, aber er biss die Zähne zusammen und rannte weiter. Sich auf Karla zu stützen, half zwar, aber es bremste sie auch. Er empfahl ihr, die Taschenlampe auszuschalten. Der Lichtstrahl war mittlerweile so matt geworden, dass er so gut wie nutzlos war, allerdings war er immer noch hell genug, um ihren Verfolgern als Wegweiser zu dienen. Schroeder benutzte seine freie Hand als Führung, indem er mit den Fingern die Tunnelwand abtastete. Der Gang schien kein Ende zu nehmen.
Nach ein paar Minuten wurden die Stimmen lauter. Grisha und seine Bande waren ihnen dicht auf den Fersen. Schroeder versuchte, größere Schritte zu machen, aber diese Anstrengung störte die Koordination seiner Bewegungen und ließ sie letztendlich langsamer werden. Nicht lange, und er würde anhalten und Karla bitten müssen, die Flucht ohne ihn fortzusetzen. Er überlegte sich bereits, wie er auf ihren zu erwartenden Protest reagieren sollte, als Karla meinte: »Ich sehe Licht.«
Schroeder blinzelte sich den Schweiß aus den Augen und starrte in die Dunkelheit. Voraus nahm er einen hellen Fleck wahr, der sich nur unwesentlich von der totalen Finsternis abhob. Er war verwirrt. Vielleicht hatte er sich, was ihre Gehrichtung betraf, bei den Wandmalereien gründlich geirrt, und sie hatten sie tatsächlich aus dem Berg hinausgeführt.
Sie eilten weiter, und der Boden senkte sich leicht ab. Der Tunnel mündete in eine riesige Kaverne. Der Raum war, so weit das Auge reichte, mit zweistöckigen Gebäuden mit flachen Dächern gefüllt. Erbaut waren die Behausungen aus einem Material, das in einem silbrigen Grün schimmerte, das die gesamte Szenerie in ein geheimnisvolles Licht tauchte.
Raue Stimmen erklangen hinter ihnen und rissen sie aus ihrer Verzauberung. Mit einer Mischung aus Scheu und ängstlicher Erwartung schickten sie sich an, die kristallene Stadt zu betreten.
28
Im zehnten Stock der NUMA-Hauptverwaltung ist das moderne Äquivalent der berühmten Bibliothek von Alexandria untergebracht. Das rundum verglaste Computer-Zentrum, das die gesamte Etage einnimmt, enthält eine gewaltige digitale Bibliothek, die jedes Buch und jeden Artikel sowie jede wissenschaftliche Tatsache und Aufzeichnung über die Weltmeere einschließt. Auf all das kann mit einem Hochgeschwindigkeits-Computernetzwerk mit der Fähigkeit, enorme Datenmengen innerhalb von Sekundenbruchteilen zu transportieren, zugegriffen werden.
Das Zentrum ist das Geistesprodukt des Computergenies der NUMA, Hiram Yeager, welcher die künstliche Intelligenz, die er geschaffen hatte, auf den Namen »Max« taufte. Es war Yeagers Idee, Max eine weibliche menschliche Persönlichkeit zu verleihen, die durch ein dreidimensionales holographisches Bild mit braunem Haar, topasfarbenen Augen und einer weichen, weiblichen Stimme repräsentiert wurde.
Paul Trout hatte sich entschlossen, auf das reizvolle holographische Bild zu verzichten. Anstatt Max’ zentrale Steuerkonsole zu benutzen, an der Yeager mit dem Computer akustisch zu kommunizieren pflegte, hatte Trout einen Konferenzraum am Rand des Datencenters bezogen. Er hatte ein simples Keyboard angeschlossen, um Max’ unerschöpflichen Wissensspeicher anzuzapfen. Das Keyboard kommunizierte mit einem überdimensionalen Monitor, der den größten Teil einer Wand einnahm. Neben Trout an einem Mahagonitisch vor dem Monitor saßen Gamay, Dr. Adler, der Wellenexperte, und Al Hibbet, der NUMA-Spezialist für Elektromagnetismus.
Trout bedankte sich bei allen für ihr Erscheinen und erklärte ihnen, dass Austin und Zavala abberufen worden waren. Dann drückte er auf einige Keyboardtasten. Das Foto eines Mannes mit schmalem Gesicht, dunklem Haar und ausdrucksvollen grauen Augen erschien auf dem Bildschirm.
»Ich möchte Sie mit dem Gentleman bekannt machen, dessen Genie uns heute hier zusammengebracht hat«, sagte Trout. »Hier sehen Sie Lazio Kovacs, den brillanten ungarischen Elektroingenieur. Dieses Foto wurde Ende der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts aufgenommen, und zwar etwa zu der Zeit, als er an seinen revolutionären Theorien über den Elektromagnetismus arbeitete. Und dies kann passieren, wenn wissenschaftliche Brillanz missbraucht wird.«
Trout wechselte das Foto und erzeugte einen geteilten Bildschirm, auf dem zwei Satellitenfotos zu sehen waren. Auf der linken Seite befand sich das Foto von den Monsterwellen, die die Southern Belle verschlungen hatten. Die andere Seite zeigte den riesigen Strudel, wie er sich aus dem Weltraum darstellte.
Er wartete, bis die Bedeutung der Fotos jedem der Anwesenden klar geworden war.
»Wir in diesem Raum haben die Vermutung geäußert, dass jemand elektromagnetische Impulse, basierend auf den Kovacs-Theoremen, angewendet haben könnte, um diese Störungen zu erzeugen. Wie Sie wissen, waren Gamay und ich in Los Alamos und haben dort mit einem ausgewiesenen Kenner der Arbeit Lazio Kovacs’ gesprochen. Er bestätigte unseren Verdacht hinsichtlich direkter menschlicher Einmischung und deutete an, dass die Art von elektromagnetischer Manipulation, mit der wir es hier höchstwahrscheinlich zu tun haben, tatsächlich einen Polsprung auslösen könnte.«
»Ich nehme an, wir unterhalten uns über eine Umkehr der magnetischen Pole«, sagte Adler.
»Ich wünschte, so wäre es«, warf Gamay ein. »Es ist jedoch durchaus möglich, dass wir es mit einem geologischen Polsprung zu tun haben, in dessen Verlauf die Erdkruste über dem Kern in Bewegung gerät.«
»Ich bin zwar kein Geologe«, sagte Adler, »aber für mich klingt das nach den Voraussetzungen für eine Katastrophe größeren Ausmaßes.«
»Tatsächlich«, meinte Gamay mit einem Lächeln, das so düster wie reizend war, »könnten wir es mit dem viel beschworenen Weltuntergang zu tun haben.«
Betroffenes Schweigen folgte auf ihre Erklärung. Adler räusperte sich schließlich. »Ich habe das Wort ›könnten‹ gehört. Offenbar sehen Sie noch einen gewissen Spielraum.«
»Ich wäre froh, wenn der Spielraum so groß wäre, dass wir uns elegant aus dieser Geschichte herauswinden können«, sagte Gamay. »Aber Sie haben Recht mit der Vermutung, dass wir noch gewisse Zweifel hegen. Wir wissen nicht, wie zuverlässig unsere Los-Alamos-Quelle ist, daher hat Paul eine Methode entwickelt, die Kovacs-Theoreme zu testen.«
»Und wie soll das gehen?«, fragte Adler.
»Mithilfe einer Simulation«, sagte Trout, »in etwa so, wie Sie in Ihrem Labor natürliche Bedingungen schaffen, indem Sie sich einer Wellenmaschine oder eines Computermodells bedienen.«
Hibbet hatte einen Einwand. »Kovacs hat seine Theorien eher allgemein dargestellt und einige spezielle Punkte weggelassen.«
»Das ist richtig«, räumte Gamay ein. »Aber Kovacs hat selbst eine detailliertere Zusammenfassung seiner Theoreme veröffentlicht. Er hat sie als Grundlage für seine der Öffentlichkeit zugänglichen Publikationen benutzt. Von dieser Zusammenfassung existiert nur ein einziges Exemplar.«
»Wie schön, wenn wir es hätten«, sagte Adler.
Gamay schob Kovacs’ Buch kommentarlos über den Tisch.
Adler nahm die Blätter vorsichtig vom Tisch auf und las den Namen auf dem Umschlag: Lazio Kovacs. Er blätterte in den vergilbten Seiten. »Das ist ja Ungarisch«, stellte er fest.
»Einer unserer NUMA-Übersetzer hat eine englische Version erstellt«, sagte Trout. »Da jedoch die Mathematik eine universelle Sprache ist, gibt es dort keinerlei Probleme. Da sah es mit den Tests ganz anders aus. Dann erinnerte ich mich an die Arbeit im National Laboratory Los Alamos, wo die Wissenschaftler eine Methode entwickelt hatten, Atombomben aus unserem Arsenal zu testen, ohne internationale Verträge und Abkommen zu verletzen. Sie testen die einzelnen Bauteile der Bombe, berücksichtigen dabei Faktoren wie zum Beispiel die Materialermüdung und so weiter und geben diese Daten in einen Computer ein, der eine Simulation durchführt. Ich beabsichtige, es genauso zu machen.«