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»Verzeihung, Miss Janos. Wir ankern in einer Viertelstunde.«

Sie wandte sich um und erblickte den Kommandanten des Schiffs. Kapitän Ivanov war ein stämmiger Mann in den Sechzigern. Sein breites Gesicht war vom arktischen Wetter gegerbt, und ein weißer Seemannsbart umrahmte sein Kinn.

Der Kapitän war ein freundlicher Mann, der einen großen Teil seines Lebens in den Gewässern rund um den Archipel verbracht hatte. Zwischen Karla und dem onkelhaften Ivanov hatte sich eine tiefe Freundschaft entwickelt, seit sie auf der Wrangelinsel, seinem Heimathafen, an Bord des Eisbrechers gekommen war. Sie hatte die ausgiebigen Unterhaltungen während des Abendessens genossen. Der Kapitän hatte sie mit seinem fundierten Wissen in Geschichte, Biologie und Meteorologie beeindruckt, das weit über den Rahmen der Kenntnisse hinausging, die nötig waren, um ein großes Schiff durch widrige Gewässer zu steuern. Sie hatte ihn zum Erröten gebracht, als sie ihn einen Renaissancemenschen genannt hatte.

Karla erinnerte den Kapitän an seine Tochter, eine Tänzerin beim Bolschoi Ballett. Sie war groß, schlank und langbeinig, und sie bewegte sich mit der lässigen Eleganz eines Menschen, der sich seines Körpers bewusst ist. Ihr langes blondes Haar trug sie im Stil einer Tänzerin im Nacken zusammengebunden. Von ihren ungarischen und slawischen Vorfahren hatte sie die besten Merkmale geerbt: eine breite Stirn, hohe Wangenknochen, einen ausdrucksvollen sinnlichen Mund, einen cremefarbenen Teint und rauchgraue Augen, deren angedeutete Mandelform auf ihre asiatische Herkunft hinwies. Obgleich Karla für kurze Zeit Tanz studiert hatte, neigte sie eher zu sportlichen Disziplinen. An der Universität von Michigan, wo sie ein Diplom in Paläontologie erworben und sich außerdem auf die Biologie der Wirbeltiere spezialisiert hatte, war sie eine der besten Läuferinnen gewesen.

»Vielen Dank, Kapitän Ivanov«, sagte sie. »Mein Gepäck steht bereit. Ich hole es sofort aus meiner Kabine.«

»Lassen Sie sich Zeit.« Er betrachtete sie mit seinen freundlichen blauen Augen. »Sie scheinen beunruhigt zu sein. Geht es Ihnen gut?«

»Ja, es ist alles in Ordnung, vielen Dank. Ich habe nur die Insel betrachtet, und, nun ja, sie sieht ziemlich unheimlich aus. Aber sicherlich bilde ich mir nur etwas ein.«

Er folgte ihrem Blick. »Nicht ganz. Ich bin seit Jahren in diesen Gewässern unterwegs. Ivory Island schien seit jeher irgendwie anders zu sein. Wissen Sie etwas über ihre Geschichte?«

»Nur dass sie von einem Pelzhändler entdeckt wurde.«

»Das stimmt. Er hat die Siedlung am Fluss gegründet. Er hat einige der anderen Händler während eines Streits um Pelze getötet, daher konnte man sie nicht nach einem Mörder benennen.«

»Diese Geschichte habe ich gehört. Ich weiß nicht, ob es mir gefallen würde, wenn mein Name, selbst wenn ich eine Mörderin wäre, mit einem solch einsamen und reizlosen Ort in Verbindung gebracht würde. Außerdem klingt Ivory Island viel poetischer. Und nach dem, was ich von der Insel als Quelle für Elfenbein weiß, auch viel zutreffender.« Sie hielt inne. »Sie meinten gerade, die Insel sei irgendwie anders? Inwiefern?«

Der Kapitän zuckte die Achseln. »Manchmal, wenn ich die Insel bei Dunkelheit passiert habe, konnte ich bewegliche Lichter in der Nähe der alten Pelztierjägersiedlung am Fluss sehen. Die Siedlung wird übrigens Ivorytown genannt.«

»Dort befindet sich der Hauptstützpunkt der Expedition, und dort werde ich wohnen.«

»Wahrscheinlich waren das irgendwelche leuchtenden Gasblasen.«

» Gas?Sie sagten, die Lichter hätten sich bewegt.«

»Sie sind sehr aufmerksam«, stellte der Kapitän fest. »Ich entschuldige mich. Ich hatte nicht vor, Ihnen Angst zu machen.«

»Im Gegenteil, Sie wecken mein Interesse.«

Karla ähnelte in so vielem seiner Tochter. Sie war intelligent, eigensinnig, draufgängerisch. »Auf jeden Fall kommen wir in zwei Wochen zurück, um Sie abzuholen«, sagte er. »Viel Glück bei Ihren Forschungen.«

»Vielen Dank. Ich denke, dass ich auf der Insel irgendetwas finden werde, das meine Theorie über die Ursache des Aussterbens der Wollhaarmammuts unterstützt.«

Der Mund des Kapitäns verzog sich zu einem verschmitzten Lächeln. »Wenn Ihre Kollegen auf der Insel mit ihrer Arbeit Erfolg haben, können wir am Ende Wollhaarmammuts im Moskauer Zoo besichtigen.«

Karla seufzte. »Wir werden es sicher nicht mehr erleben. Selbst wenn die Expedition bei einem gut erhaltenen Exemplar Wollhaarmammut-DNS finden sollte und diese einem indischen Elefanten eingepflanzt werden kann, dürfte es mehr als fünfzig Jahre dauern, um eine Kreatur zu erzeugen, die man halbwegs als Wollhaarmammut ansehen kann.«

»Ich hoffe, dass es niemals so weit kommt«, sagte der Kapitän. »Ich halte es nicht für weise, der Natur ins Handwerk zu pfuschen. Darauf passt eine Weisheit der Seeleute: Pfeife niemals an Deck, denn daraus könnte ein Sturm entstehen.«

»Ich bin durchaus Ihrer Meinung. Deshalb bin ich froh, dass mein Gebiet die reine Forschung ist.«

»Noch einmal, meine besten Wünsche begleiten Sie. Und jetzt muss ich mich entschuldigen, weil ich mich um mein Schiff kümmern muss.«

Karla bedankte sich für seine Gastfreundschaft, und sie schüttelten sich die Hand. Karla überkam ein Gefühl der Einsamkeit, als der Kapitän sich entfernte, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken an die Arbeit, die vor ihr lag. Mit einem letzten trotzigen Blick auf die Insel begab sie sich zu ihrer Kabine, wo sie ihr Gepäck holte und damit an Deck zurückkehrte, um darauf zu warten, an Land gebracht zu werden.

Nicht weit vom Ufer eines natürlichen Hafens entfernt, beschrieb das Schiff einen Bogen, um einen breiten Kanal durchs Eis zu brechen. Karla lud ihre Reisetaschen in die Barkasse des Schiffs und kletterte dann selbst hinein. Das offene Boot wurde ins Wasser hinabgelassen, die beiden Matrosen an Bord lösten die Leinen, und dann steuerten sie auf die Insel zu, wobei sie sich zwischen Eisschollen so groß wie Pkw hindurchschlängelten. Während das Boot sich dem Land näherte, konnte sie am Ufer eine Gestalt erkennen, die ihnen zuwinkte.

Minuten später erreichte die Barkasse das Ufer ein gutes Stück von einem Fluss entfernt, der in den Hafen mündete, und Karla stieg aus auf einen Kiesstrand. Die Frau mittleren Alters, die am Strand gewartet hatte, kam auf sie zu und umarmte sie zur Begrüßung.

»Ich bin Maria Arbatov«, stellte sie sich vor. Sie sprach mit russischem Akzent. »Ich freue mich sehr, Sie hier begrüßen zu können, Karla. Ich habe viel Gutes über Ihre Arbeit gehört. Es ist kaum zu glauben, dass jemand, der so jung ist, schon so viel geleistet hat.«

Maria hatte silbergraues Haar, das sie in einem dicken Knoten trug, hohe, rosige Wangenknochen und ein offenes Lächeln, das der arktischen Luft jede Kälte nahm.

»Die Freude ist ganz meinerseits, Maria. Vielen Dank für diese liebe Begrüßung.«

Maria entschuldigte sich und überwachte das Ausladen einiger Vorräte, die ebenfalls mit dem Boot gebracht worden waren. Die Kisten wurden akkurat am Ufer aufgestapelt, von wo sie später abgeholt würden. Maria meinte, es gäbe niemanden, der sich unbefugterweise daran zu schaffen machen könnte. Karla bedankte sich bei der Bootsbesatzung. Danach stiegen sie und Maria einen kleinen Hügel hinauf und wanderten am Ufer des Flusses entlang. Ein Pfad aus Schuhabdrücken verriet, dass sie sich auf dem Hauptverkehrsweg zum Strand befanden.