Harper angelte sich den Telefonhörer und rief das Hotel an. Er bat darum, mit den Zimmern des Fernsehteams verbunden zu werden. Als sich niemand meldete, knallte er den Hörer auf die Gabel. Er rieb sich die Augen und schien dicht davor zu sein, in Tränen auszubrechen.
»Das war’s dann«, seufzte er. »Ich hatte fest mit einem Scheck von diesem Auftrag gerechnet, um die monatliche Rate für den großen Vogel bezahlen zu können. Ich bin ruiniert.«
»Haben Sie keine anderen Charter auf der Liste?«
»So einfach ist das nicht. Es dauert Tage, manchmal Wochen, um einen Deal zusammenzukriegen.«
»Demnach kann man Ihr Flugzeug und Ihr Boot mieten?«
»Ja, sie sind frei. Kennen Sie jemanden, der daran interessiert wäre, sie zu chartern?«
»Zufälligerweise würde ich das gerne tun.« Schroeder griff in die Innentasche seines Jacketts und holte ein dickes Bündel Banknoten heraus, das er auf einen Papierstapel legte.
»Das ist für den Flug und für das Boot. Den gleichen Betrag bezahle ich für den Rückflug. Meine einzige Bedingung ist, dass Sie sich für ein paar Tage bereithalten, bis ich das Signal zur Rückkehr gebe.«
Harper ergriff das Geldbündel und strich mit dem Daumen über die Ecken der Scheine. Es waren Hundert-Dollar-Noten. »Dafür kann ich mir praktisch ein neues Flugzeug kaufen.« Er runzelte die Stirn. »Es ist doch nichts Illegales, oder?«
»Überhaupt nichts Illegales. Sie nehmen keinerlei Fracht mit. Nur mich.«
»Haben Sie Papiere?«
»Reisepass und Visa sind neuesten Datums und in Ordnung.« Das sollten sie auch sein, wenn er sich vorstellte, was er dafür bezahlt hatte, dachte Schroeder. Er hatte in Seattle Halt gemacht und ungeduldig gewartet, während sein bevorzugter Fälscher einen vollständigen Satz Papiere für Professor Kurtz herstellte.
Harper streckte ihm seine Hand entgegen. »Wir sind im Geschäft.«
»Gut. Wann können wir aufbrechen?«
»Wann immer Sie bereit sind.«
»Ich bin bereit.«
Eine Stunde später startete das Flugzeug. Schroeder lehnte sich in seinem Sitz zurück, genoss die Ruhe, die sich aus der Tatsache ergab, der einzige Passagier im Flugzeug zu sein, und nahm einen Schluck aus einem Glas Scotch, den Harper, weitsichtig wie er war, im letzten Moment an Bord mitgenommen hatte. Im Augenblick saß er im Cockpit und lenkte die Maschine ihrem fernen Ziel entgegen. Während Fairbanks hinter ihnen verschwand und das Flugzeug nach Westen raste, machte Schroeder einen tiefen Atemzug. Er war sich bewusst, dass er ein alter Mann war, der versuchte, den Job eines jungen zu erledigen. Schroeder hatte darum gebeten, einstweilen nicht gestört zu werden. Er war müde und brauchte ein wenig Schlaf.
Für die Aufgabe, die vor ihm lag, musste er hellwach und absolut ausgeruht sein. Er verbannte sämtliche Emotionen und Gedanken aus seinem Bewusstsein und schloss die Augen.
17
Das NOAA-Schiff Benjamin Franklinschleppte sich dahin wie ein Seemann, der in eine ausgiebige Kneipenschlägerei verwickelt gewesen war. Das Tauziehen mit dem Strudel hatte seinen Preis von den Maschinen des Schiffs gefordert, die unbedingt gründlich gewartet und aufgepäppelt werden mussten, damit sie nicht vollständig den Geist aufgaben. Die Throckmortonfolgte ihm im Abstand von wenigen hundert Metern für den Fall, dass das NOAA-Schiff in Schwierigkeiten geriet.
Während die beiden Schiffe langsam nach Norfolk dampften, erschien im Westen am Himmel ein türkisfarbener Mehrzweckhubschrauber, auf dessen Rumpf in großen Lettern NUMA zu lesen war. Er blieb über der Benjamin Franklinwie ein Kolibri kurz in der Luft stehen, ehe er auf dem Deck landete. Vier Personen kletterten heraus, bepackt mit medizinischem Gerät.
Besatzungsmitglieder führten das Ärzteteam ins Schiffslazarett. Keine der Verletzungen, zu denen es gekommen war, als das Schiff senkrecht in den Strudel rutschte, war lebensbedrohlich. Der Kapitän hatte das Team zur Unterstützung des Schiffssanitäters angefordert, der mit der Versorgung der zahllosen Prellungen und Quetschungen einfach überfordert war.
Der Helikopter wurde aufgetankt, und die beiden Besatzungsmitglieder, die Armbrüche davongetragen hatten, wurden eingeladen. Austin bedankte sich bei dem Kapitän für seine Gastfreundschaft. Dann stieg auch er zusammen mit den Trouts und Professor Adler in die Maschine. Innerhalb von Minuten befanden sie sich schon in der Luft.
Weniger als zwei Stunden später landeten sie auf dem National Airport. Die Verletzten wurden in Krankenwagen geladen. Die Trouts fuhren mit einem Taxi zu ihrem Haus in Georgetown und nahmen Adler als Gast mit, und Zavala brachte Austin zu seinem Haus am Potomac River in Fairfax, Virginia, gut anderthalb Kilometer von der Zentrale der Central Intelligence Agency in Langley entfernt. Sie alle waren übereingekommen, sich erholt und ausgeschlafen um acht Uhr am nächsten Morgen wieder zu treffen.
Austin wohnte in einem umgebauten viktorianischen Bootshaus mit Blick auf den Fluss. Er hatte das mit kleinen Türmen verzierte Gebäude erworben, als er noch für die CIA gearbeitet hatte. Der mit einem Mansardendach versehene Bau gehörte zu einem alten Landgut und war von den vorherigen Eigentümern vernachlässigt worden. Er war die Heimat zahlloser Mäusefamilien gewesen, als Austin ihn im Innern hatte entkernen und umbauen lassen und sein Äußeres in seine alte Pracht zurückversetzt hatte. Der Raum unter dem Wohnbereich beherbergte sein Rennruderboot und ein kleines Außenbordgleitboot.
Er ließ seine Reisetasche in der Diele fallen und betrat das geräumige Wohnzimmer. Sein Haus war eine eklektische Mischung aus alt und neu. Die authentischen, aus dunklem Holz hergestellten Möbel im Kolonialstil kontrastierten mit den weiß gestrichenen Wänden, an denen moderne und naive Gemälde und Landkarten hingen. In den vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherschränken standen die häufig gelesenen, in Leder gebundenen Seeabenteuer von Joseph Conrad und Herman Melville sowie die Werke der bedeutenden Philosophen, die er mit besonderer Vorliebe studierte. In Glasvitrinen lagen einige der wertvollen Duellpistolen, die er sammelte. Seine umfangreiche Musiksammlung mit Schwerpunkt Jazz spiegelte seine stählerne Gelassenheit, seine Energie und Entschlossenheit sowie sein Improvisationstalent wider.
Er hörte seinen Anrufbeantworter ab. Zahlreiche Anrufe waren eingegangen, aber es war nichts dabei, das nicht warten konnte. Er schaltete die Stereoanlage ein, und Oscar Petersons perlende Hochgeschwindigkeitsklavierläufe füllten den Raum. Er schenkte sich von seinem besten anejoTequila ein, öffnete die gläserne Schiebetür und trat mit dem Glas, in dem Eiswürfel klirrten, hinaus auf die Veranda. Er lauschte dem leisen Plätschern des Flusses und saugte die feuchte, nach Blumen duftende Luft der Flussauen ein, die so anders war als der salzige Geruch des Ozeans, auf dem er den größten Teil seiner Arbeitszeit verbrachte.
Nach ein paar Minuten kehrte er ins Haus zurück, holte ein Buch über griechische Philosophen aus einem Regal und schlug es bei Platos »Allegorie von der Höhle« auf. In Platos Parabel können in einer Höhle angekettete Gefangene nur die Schatten von Puppen an der Wand sehen und dabei hören, wie die Puppenspieler hinter ihnen agieren. Mit diesen wenigen Indizien müssen die Gefangenen entscheiden, was Schatten und was Realität ist. Auf ähnliche Weise sortierte Austins Gehirn die merkwürdigen Ereignisse der letzten Tage und versuchte, Ordnung in sein mentales Chaos zu bringen. Er kam immer wieder auf das Einzige zurück, das er halbwegs begreifen konnte.
Er ging zu einem Schreibsekretär und schaltete seinen Laptopcomputer ein. Indem er sich der Website-Adresse bediente, die Dr. Adler ihm genannt hatte, rief er das Satellitenbild von der Region auf, in der die Riesenwelle entstanden war. Das Bild zeigte, dass alles ruhig und friedlich war. Er ging in den Bildarchiven zurück bis zu dem Datum, an dem die Southern Bellegesunken war. Zwei riesige Wellen, die Adler aufgeschreckt hatten, waren an dem Tag, an dem das Schiff verschwunden war, deutlich zu sehen. Das Schiff selbst erschien als kleiner pulsierender Lichtpunkt, der von einer zur anderen Minute spurlos verschwand.