Ito lächelte und verbeugte sich höflich, als Karla ihnen zu ihrem Einfall gratulierte.
Sergei übernahm die Führung, gefolgt von den beiden Frauen, während die Japaner die Nachhut bildeten. Sie verließen jetzt den Fluss und wanderten landeinwärts. Die Topographie veränderte sich, als die flache Tundra in eine Landschaft aus Hügeln und Tälern überging, und schließlich kamen sie am Rand der hügeligen Ausläufer am Fuß des Vulkans an. Während sie sich dem schwarzen, wie abgeschnitten aussehenden Berg näherten, den sie aus der Ferne ständig vor Augen gehabt hatten, begann er, vor ihnen aufzuragen wie ein Altar zu Ehren Vulkans, des Herrschers der Unterwelt.
Sie wanderten an mehreren kleinen Seen vorüber und umrundeten ausladende Büschel hohen Grases, die auf sumpfige Stellen hinwiesen, an denen es von Zugvögeln wimmelte. Die Temperatur stieg bis auf Minus ein Grad Celsius an, doch ein Wind, der vom Arktischen Ozean hereinwehte, sorgte für einen Abkühlungsfaktor, der diesen Wert erheblich senkte, und Karla war froh, dass sie sich für ihren Daunenparka entschieden hatte.
Sobald sie in einen etwa zehn Meter breiten Graben hinabgestiegen waren, stellte der kalte Wind kein Problem mehr dar. Rund sieben Meter hohe Böschungen hielten ihn von beiden Seiten ab. Ein schmaler Bach, nicht mal einen Meter breit, hatte sein Bett in der Mitte, so dass sie rechts und links davon genügend Platz zum Gehen hatten. Etwa zwei Stunden lang folgten sie dem gewundenen Verlauf des Einschnitts, wobei die Zusammensetzung der Böschung sich allmählich veränderte. Schon bald wurde deutlich, dass die Rinne ein urzeitlicher Friedhof war. Der Bach hatte diese Rinne geschaffen und sich durch mehrere Schichten von Knochen gegraben, die nun aus dem Sand unter ihren Füßen hervorschauten.
Karla blieb stehen und hob einen Büffelknochen auf, der genau in die Pfanne eines anderen Knochen passte, den sie ein paar Schritte weiter fand. Die anderen Wissenschaftler waren nicht sonderlich beeindruckt. Sie schenkten dem Fund kaum einen zweiten Blick, und sie musste die Knochen fallen lassen und sich beeilen, um die anderen wieder einzuholen.
Sie war verärgert und enttäuscht über ihre Gleichgültigkeit, aber der Grund für ihr mangelndes Interesse wurde schon bald offenbar. Während sie eine Biegung umrundeten, sah sie, dass die niedrigen Kliffs nahezu vollständig aus Knochen jeder Größe und Art bestanden, die durch den Permafrost zusammengefügt worden waren. Sie identifizierte schnell ein Zwergpferd und urzeitliche Rentierfossilien, Rippen und Oberschenkelknochen sowie mächtige Mammutknochen und Stoßzähne. Der Friedhof erstreckte sich über fast zweihundert Meter Länge.
Mit großem Trara verkündete Sergei, dass sie an ihrem Ziel angelangt seien. Er ließ seinen Rucksack neben der Asche eines früheren Feuers auf den Boden fallen. »Das ist unser Basislager«, erklärte er.
Die anderen nahmen ebenfalls ihre Rucksäcke ab und setzten den Weg durch den Graben fort, nur mit Kameras und ein paar kleinen Werkzeugen bewaffnet. Während sie weitergingen, dachte Karla an das Mammutjunge im Camp. Sie konnte es kaum erwarten, den Fund eingehend zu untersuchen. Aus seinem Gewebe und der Knorpelsubstanz könnten sie mithilfe der Radiokarbonmethode feststellen, wann das Tier gelebt hatte und gestorben war. Die Stoßzähne lieferten Wachstumsringe wie bei einem Baum, aus denen man die jahreszeitlich bedingten Wetterveränderungen sowie Daten über den Stoffwechsel und über das Wanderverhalten herauslesen konnte. Samenkörner und Pollenreste im Magen würden einiges über die biologische Welt berichten, die hier vor Tausenden von Jahren existiert hatte.
Nachdem sie etwa zehn Minuten gegangen waren, kamen sie zu einem Abschnitt, in dem sich in einer Wand der engen Schlucht eine kleine Höhle befand.
»Hier haben wir unser kleines Baby gefunden«, sagte Sergei.
Der zerklüftete Hohlraum war einige Meter lang und etwa dreißig Zentimeter tief.
»Wie sind Sie durch den Permafrost gelangt?«, wollte Karla wissen.
»Unglücklicherweise hatten wir keinen Wasserschlauch, um den Permafrost aufzutauen«, antwortete Maria. »Daher mussten wir uns auf Hammer und Meißel beschränken, um den Fund freizulegen.«
»Demnach war er schon zu sehen, ja?«
»Ja«, sagte Maria. »Wir mussten uns nur einmal mit dem Meißel um den Kadaver herumarbeiten, ehe wir ihn herausziehen konnten.« Sie beschrieb, wie sie aus Mammutstoßzähnen eine behelfsmäßige Bahre gebaut und den Kadaver zum Fluss geschleift hatten. Mit dem Floß war er dann ins Camp geschippert und im Schuppen deponiert worden, wo die Temperatur während des ganzen Tages nicht über den Gefrierpunkt stieg.
Karla untersuchte die Öffnung. »Irgendetwas ist hier merkwürdig«, sagte sie.
Die anderen Wissenschaftler drängten sich um sie.
»Ich sehe nichts«, sagte Sergei.
»Doch, da vorne. Da sind andere Knochen, die viel tiefer im Permafrost stecken. Sie sind offensichtlich einige tausend Jahre alt.« Sie griff in das Loch und kratzte ein paar verfaulte Pflanzenreste heraus und zeigte sie ihren Kollegen.
»Dies hier ist nicht sehr alt. Ihr kleiner Elefant ist in viel jüngerer Zeit in dieses Loch gelangt.«
»Vielleicht liegt es an meinen beschränkten Englischkenntnissen, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich verstehe, was Sie damit ausdrücken wollen«, sagte Sato höflich.
»Ja, was meinen Sie überhaupt?«, fragte Sergei und versuchte gar nicht erst, seine Ungehaltenheit zu verbergen.
»Dass das Mammut nicht in diese Umgebung gehört?«
»Ich weiß nicht, was ich meine. Ich habe nur festgestellt, dass das Fleisch nicht verfault ist.«
Sergei verschränkte die Arme und blickte die anderen mit einem triumphierenden Grinsen an.
»Ich verstehe«, sagte Maria. »Es wundert mich, dass wir es nicht vorher schon bemerkt haben. Diese kleine Schlucht füllt sich von Zeit zu Zeit immer noch mit Wasser. Es ist möglich, dass eine Überschwemmung das Baby weiter flussaufwärts aus der Grabenwand gewaschen und hierher mitgenommen hat, wo es in dem Loch hängen blieb und erneut einfror.«
Sergei erkannte, dass sein Nimbus als Expeditionsleiter zu verblassen drohte. »Wir sind nicht hergekommen, um uns irgendwelche Erdlöcher anzusehen«, sagte er barsch. Er ging etwa dreißig Meter weiter zu einer Stelle, wo der Graben sich gabelte. »Sie gehen mit Maria dort hinein«, sagte er und deutete auf die linke Abzweigung. »Wir untersuchen den anderen Graben.«
»Aber in diesem Teil waren wir doch schon«, protestierte Maria.
»Dann schaut euch noch einmal um. Vielleicht findet ihr noch mehr von euren schwimmenden Mammuts.«
Marias Augen blitzten. Sato erkannte, dass ein mittleres Donnerwetter drohte, und intervenierte. »Wir sollten lieber überprüfen, ob unsere Sprechfunkgeräte auf den gleichen Kanal eingestellt sind«, sagte er schnell.
Nachdem auf diese Art und Weise ein heftiger Streit vermieden worden war, kontrollierte jeder sein Walkie-Talkie und vergewisserte sich, dass die Batterien geladen waren. Dann teilten sie sich in zwei Gruppen auf, wobei die drei Männer nach rechts gingen und die Frauen in den linken Arm des Grabens vordrangen.
»Was ist heute mit Sergei los?«, erkundigte Karla sich.
»Wir hatten gestern Abend Streit wegen Ihrer Theorie. Er sagte, sie sei völlig falsch. Ich erwiderte, das meine er nur, weil Sie eine Frau sind. Er ist ein schrecklicher Macho, dieser Mann.«
»Vielleicht braucht er nur ein wenig Zeit, um sich zu beruhigen.«
»Der alte Bock wird heute Nacht mit einem Eisberg schlafen. Vielleicht bringt ihn das zur Ruhe.«
Sie brachen in schallendes Gelächter aus, das von den Wänden des Grabens widerhallte. Nachdem sie mehrere Minuten lang gegangen waren, sah Karla, weshalb Maria so wütend gewesen war, in den linken Seitenarm geschickt zu werden. Es gab hier nur wenige Knochen. Maria bestätigte, dass die Expedition den anderen Arm teilweise untersucht und festgestellt hatte, dass dort viel mehr Knochen zu finden waren als im linken Seitenarm.
Während sie die Wände der Rinne untersuchten, knisterte Marias Sprechfunkgerät. Itos Stimme erklang.