Schroeder hatte erwartet, dass die Temperatur steigen würde, je tiefer sie gelangten, und stellte nun zu seiner Freude fest, dass sie konstant blieb und dass die Luft relativ frisch war. Er machte Karla auf dieses Phänomen aufmerksam und äußerte die Vermutung, dass die Höhle vielleicht einen zweiten Ausgang habe. Er wusste, dass dafür nur eine geringe Hoffnung bestand, zumal der Höhlenboden sich jetzt merklich senkte, aber es schien Karla neuen Mut zu geben.
Die Höhle schlängelte sich, schwenkte leicht nach links, dann nach rechts, aber stetig abwärts. Manchmal war die Decke hoch genug, so dass sie aufrecht gehen konnten. Einige Abschnitte waren hingegen nur wenig über einen Meter hoch, und sie mussten diese Strecken kriechend überwinden. Schroeder stellte zu seiner Erleichterung fest, dass es nur einen einzigen Tunnel gab, ohne Abzweigungen, die eine Entscheidung nötig gemacht und die Gefahr gesteigert hätten, sich hoffnungslos zu verirren.
Nachdem sie etwa eine Stunde lang gewandert waren, öffnete der Gang sich zu einem großen Saal. Sie hatten keine Ahnung, wie groß er war, bis sie begannen, ihn zu erkunden.
Während die Lichtstrahlen ihrer Taschenlampen von der Feuchtigkeit reflektiert wurden, die der hohen Decke und den fernen Wänden zu einem matten Glanz verhalf, wurde offensichtlich, dass der Saal mindestens ebenso groß war wie das Foyer eines Grandhotels. Der Boden war beinahe eben. Am anderen Ende, genau gegenüber dem Punkt, an dem sie hereingekommen waren, befand sich die einzige andere Öffnung, die so groß zu sein schien wie ein Garagentor.
Sie wanderten an der Wand des Saales entlang, tranken gelegentlich aus ihren Wasserflaschen und staunten über Form und Ausdehnung der Kaverne. Schroeder betrachtete sie unter dem Aspekt, einen geeigneten Ort für einen Hinterhalt zu finden, und entschied, dass sie mit ihren Winkeln und Nischen ein ideales Schlachtfeld abgeben würde. Karla war unterdessen zur anderen Öffnung weitergegangen, die sie mithilfe ihrer Taschenlampe untersuchte, bevor sie hindurchtrat.
»Onkel Karl«, rief sie wenig später mit lauter Stimme.
Er ging zu der Stelle hinüber, wo sie auf dem Höhlenboden kniete. Genau im Mittelpunkt des Lichtstrahls aus ihrer Taschenlampe befand sich eine braune Pflanzenmasse.
»Was ist das?«, fragte Schroeder.
Sie antwortete nicht sofort. Nach einigen Sekunden sagte sie: »Es sieht aus wie Elefantendung.«
Schroeder lachte schallend auf. »Meinst du, hier wäre ein Zirkus durchgezogen?«
Sie stand auf und berührte ihren Fund mit einer Schuhspitze. Ein Geruch von Moschus und Gras stieg von dem Haufen auf. »Ich glaube, ich muss mich setzen«, sagte sie.
Sie fanden einen Felsvorsprung, der ihnen Platz zum Sitzen bot, und sie erfrischten sich aus ihren Wasserflaschen. Karla erzählte Schroeder von dem Mammutjungen, das nicht weit vom Höhleneingang entfernt gefunden worden war. »Ich habe bis jetzt keine Idee, wie es so gut hatte erhalten bleiben können«, sagte sie. »Niemand hat jemals ein solches Exemplar gefunden. Es schien erst vor Tagen oder wenigen Wochen gestorben zu sein.«
»Willst du damit andeuten, dass vielleicht Wollhaarmammuts in diesen Höhlen leben?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte sie lachend. »Das wäre absolut unmöglich. Vielleicht war das früher mal der Fall, und der Dung ist sehr alt. Ich will dir mal eine Geschichte erzählen. Im Jahr 1918 zog ein russischer Jäger durch die Taiga, den großen sibirischen Wald, als er riesige Spuren im Schnee entdeckte. Tagelang folgte er den Lebewesen, die sie hinterlassen hatten. Sie ließen haufenweise Dung und abgebrochene Baumäste zurück. Er berichtete anschließend, zwei riesige Elefanten mit kastanienbraunem Fell und mächtigen Stoßzähnen gesehen zu haben.«
»Eine zweifelhafte Jagdgeschichte ohne irgendeinen überzeugenden Beweis, mit der der Betreffende nur Eindruck schinden wollte?«
»Möglicherweise. Aber die Eskimos und die nordamerikanischen Indianer erinnerten sich ebenfalls an Legenden von riesigen zottigen Lebewesen. 1993 wurden die Skelette von Zwergmammuts auf der Wrangelinsel zwischen Sibirien und Alaska und gar nicht weit von hier gefunden. Das Alter der Knochen wurde auf dreieinhalbtausend bis siebentausend Jahre geschätzt, was bedeutet, dass Mammuts auch noch während des Paläolithikums über die Erde zogen, also zur gleichen Zeit, als der Mensch Stonehenge errichtete und Pyramiden baute.«
Schroeder lachte leise und sagte: »Du würdest am liebsten weiterforschen, nicht wahr?«
»Ich möchte keine so günstige Gelegenheit wie diese ungenutzt verstreichen lassen, indem ich herumsitze und Däumchen drehe. Vielleicht finden wir noch ein gut erhaltenes Exemplar.«
»Ich glaube nicht, dass man die Vorbereitungen dafür, eine Bande von geldgierigen Halsabschneidern aus der Welt zu schaffen, als Däumchen drehen bezeichnen kann. Aber überrascht bin ich nicht. Einmal, als du noch ein Kind warst, habe ich dir Alice im Wunderland vorgelesen. Nicht viel später ertappte ich dich draußen im Garten dabei, wie du versuchtest, deinen Kopf in ein Kaninchenloch zu zwängen. Du meintest, du wünschtest dir, irgendeinen Trank zu haben, der dich einschrumpfen lassen würde wie Alice.«
»Daran warst sicherlich du schuld, weil du mir solche Geschichten vorgelesen hast.«
»Nun scheint es, als hätten wir keine große Wahl mehr«, sagte er müde. Er schnappte sich seinen Seesack und humpelte auf die Öffnung in der Felswand zu. »Dann nichts wie rein ins Kaninchenloch.«
26
Der kastanienbraune Hengst galoppierte durch die saftig grüne Landschaft von Virginia, als kämpfte er um den ersten Platz im Kentucky Derby. Jordan Gant kauerte im Sattel wie ein zu groß geratener Jockey und prügelte mit seiner Gerte auf das Hinterteil des Pferdes ein. Der Hengst legte ein mörderisches Tempo vor. Seine Augen rollten, sein glattes Fell glänzte vor Schweiß, und ihm hing die Zunge aus dem Maul. Trotzdem kannte Gant kein Erbarmen. Es war nicht so sehr Grausamkeit, die bei ihm immerhin auf das Vorhandensein irgendeiner Emotion hätte schließen lassen können, sondern eher die totale Missachtung all dessen, das sich unter seiner Kontrolle befand.
Gant überquerte Wiesen und Weiden und ritt am Rand der Zufahrt entlang, die von Pappeln gesäumt wurde, bis er zu einem weitläufigen Landhaus kam. Er hielt auf einen Stall unweit des Wohnhauses zu, gestattete dem erschöpften Tier, in Trab zu fallen, dann in einen normalen Schritt und schließlich stehen zu bleiben. Gant glitt elegant aus dem Sattel, ließ sich von einem wartenden Pferdeknecht ein Handtuch reichen und warf ihm achtlos die Zügel zu. Das Pferd lahmte, als es weggeführt wurde.
Gant schlenderte über einen Steinplattenweg zur Haustür. Mit seinem schwarzen, kurzärmeligen Hemd und einer Reithose trug er den klassischen Polodress. Er hatte eine muskulöse, athletische Gestalt, und die Kleider hätten ihm auch dann gepasst wie angegossen, wenn sie nicht maßgeschneidert gewesen wären. Als ob sein Arm ein Eigenleben führte, ließ er die Reitgerte gegen seine kniehohen Stiefel aus Korduanleder klatschen, während er ging. Die massive Haustür schwang auf, als Gant sich ihr näherte, und schließlich betrat er eine riesige Eingangshalle, in deren Mitte ein Zierbrunnen plätscherte. Gant reichte seine Handschuhe und das Handtuch dem leichenblassen Butler, der die Tür geöffnet hatte.
Der Butler räusperte sich. »Ihr Gast ist eingetroffen, Sir. Er wartet in der Bibliothek.«
»Einen Bombay Sapphire Martini und das Übliche für mich.«
Der Butler verbeugte sich und verschwand in einem langen Flur. Gant ging durch eine Tür, die von der Halle in einen großzügigen Raum führte, dessen Wände mit deckenhohen Bücherregalen gesäumt waren, in denen reihenweise die wertvollen Bücher standen, die er sammelte. Margrave stand in der Nähe einer Terrassentür, die einen Blick auf gestutzte Rasenflächen gestattete, die so grün und eben waren wie die Spielfläche eines Billardtisches. Er blätterte in einem Buch mit einem Einband aus rotem, marokkanischem Leder.