»Es ist keiner zu Hause«, flüstert Penelope.
Sie schleichen sich näher an das Haus heran, bleiben auf Hundegebell oder wütende Rufe gefasst. Sie blicken zwischen den Vorhängen hinein, gehen um die Ecke und versuchen vorsichtig, die Haustür zu öffnen. Sie ist abgeschlossen, und Penelope schaut sich um.
»Wir müssen da rein, wir müssen uns ausruhen«, sagt Björn. »Wir werden ein Fenster einschlagen müssen.«
An der Wand steht ein Tontopf, in dem eine kleine Pflanze mit schmalen blassgrünen Blättern wächst. Penelope steigt süßer Lavendelduft in die Nase, als sie sich bückt und einen Stein aus dem Topf nimmt. Er ist aus Plastik und an seiner Unterseite befindet sich ein kleiner Deckel. Sie nimmt ihn ab, zieht den Schlüssel heraus und legt den Plastikstein in den Topf zurück.
Sie schließen auf und gelangen in einen Flur mit einem Fußboden aus Kieferdielen. Penelope spürt, wie ihre Beine zittern, sie sind kurz davor nachzugeben. Tastend sucht ihre Hand nach Halt. An den Wänden hängen plüschige Medaillontapeten. Penelope ist derart müde und hungrig, dass ihr das Haus so unwirklich erscheint wie ein Lebkuchenhaus. Überall hängen gerahmte Fotos mit Widmungen. Unterschriften und Grüße, geschrieben mit Goldstift oder schwarzer Tinte. Die Gesichter kennt sie aus schwedischen Fernsehprogrammen: Siewert Öholm, Bengt Bedrup, Kjell Lönnå, Arne Hegerfors, Magnus Härenstam, Malena Ivarsson, Jacob Dahlin.
Sie gehen weiter in das Haus hinein, durch ein Wohnzimmer und in die Küche, ihre Augen halten unstet Ausschau.
»Hier können wir nicht bleiben«, flüstert Penelope.
Björn geht zum Kühlschrank und öffnet ihn. Er ist mit frischen Lebensmitteln gefüllt. Das Haus ist offenbar doch nicht so verlassen, wie sie angenommen haben. Björn schaut sich um und holt Käse, eine halbe Salami und die Milchtüte aus dem Kühlschrank. In der Vorratskammer findet Penelope ein Baguette und ein Paket Cornflakes. Fiebrig reißen sie das Brot in Stücke, reichen sich abwechselnd den Käse und verspeisen große Bissen, die sie mit dem Brot herunterschlingen. Björn trinkt gierig direkt aus der Milchtüte, die Milch läuft ihm aus den Mundwinkeln den Hals herab. Penelope isst Pfeffersalami und Flakes, nimmt die Milchtüte an, trinkt und verschluckt sich, muss husten und trinkt weiter. Sie lächeln sich nervös an, ziehen sich vom Fenster zurück und essen, bis sie ruhiger werden.
»Bevor wir weitergehen, müssen wir frische Kleider finden«, sagt Penelope.
Während sie das Haus durchsuchen, regt sich nach und nach das eigentümlich kribbelnde Gefühl in ihnen, das man bekommt, wenn einem vom Essen warm wird. Der Kreislauf kommt in Schwung, das Herz schlägt fest, der Magen schmerzt, das Blut fließt in den Adern.
Im größten Schlafzimmer mit einer Glastür zur Fliederlaube gibt es eine Schrankwand mit Spiegeltüren. Penelope öffnet die Schiebetür.
»Was ist denn das?«
Der große Schrank ist vollgestopft mit seltsamen Kleidern. Goldene Jacketts, schwarz glitzernde Paillettengürtel, ein gelber Smoking und eine taillenlange, flauschige Pelzjacke. Verblüfft wühlt Penelope in jeder Menge Stringbadehosen und durchsichtigen, getigerten, tarngemusterten und gestrickten Tangaslips.
Sie öffnet die zweite Schranktür, findet einfachere Kleider, Pullover, Jacken und Hosen. Sie sucht eilig und rafft einige Kleidungsstücke zusammen. Zittrig zieht sie die durchnässte Trainingshose und die Bikinihose aus, streift die enge Kapuzenjacke und das schmutzige Bikinioberteil ab.
Im Spiegel sieht sie sich plötzlich selbst. Sie ist voller blauer Flecken, ihre Haare hängen in schwarzen Strähnen, sie hat Wunden im Gesicht, Abschürfungen und blaue Flecken an den Schienbeinen, sie blutet immer noch aus einer Wunde am Oberschenkel, und ihre Hüfte ist nach dem Sturz den steilen Hang hinunter aufgeschürft.
Sie zieht eine zerknitterte Anzughose, ein T-Shirt mit der Aufschrift »Esst mehr Haferbrei« und einen Strickpullover an. Der Pullover ist groß und reicht ihr bis zu den Knien. Ihr wird noch wärmer, und ihr Körper will sich entspannen. Plötzlich bricht sie in Tränen aus, beruhigt sich aber schnell wieder, wischt sich die Tränen von den Wangen und geht in den Flur, um nach Schuhen zu suchen. Sie findet ein Paar blauer Gummistiefel und kehrt ins Schlafzimmer zurück. Sie sieht, dass Björn lehmverschmiert und nass ist. Er zieht eine lila Velourhose durch den Schmutz. Seine Füße sehen furchtbar aus, erdig und voller Wunden, wo er geht, hinterlässt er eine Blutspur auf dem Boden. Er zieht ein blaues T-Shirt und ein schmales hellblaues Lederjackett mit breiten Aufschlägen an.
Penelope kommen wieder die Tränen, sie quellen hervor, und sie ist zu müde, hat einfach nicht mehr die Kraft, gegen sie anzukämpfen. In ihren Tränen liegt das ganze Grauen ihrer kopflosen Flucht.
»Was geht hier nur vor?«, jammert sie.
»Ich weiß es nicht«, flüstert Björn.
»Wir haben sein Gesicht nicht gesehen. Was will er? Was zum Teufel will er eigentlich? Ich kapiere gar nichts. Warum verfolgt er uns? Warum will er uns etwas antun?«
Sie wischt sich mit dem Ärmel ihres Pullovers die Tränen aus dem Gesicht.
»Ich denke«, fährt sie fort, »ich meine … stell dir vor, Viola hat etwas getan, etwas angestellt. Du weißt doch, ihr Typ, Sergej, mit dem sie Schluss gemacht hat, vielleicht ist der ja kriminell, ich weiß, dass er mal als Türsteher gejobbt hat.«
»Penny …«
»Ich meine ja nur, Viola ist so … vielleicht hat sie etwas getan, was man nicht tun darf.«
»Nein«, flüstert Björn.
»Was heißt hier nein, woher wollen wir das wissen, du brauchst mich nicht zu trösten.«
»Ich muss …«
»Er … dieser Mann, der uns verfolgt … vielleicht will er nur mit uns reden. Ich weiß, dass das nicht stimmt, ich meine nur, dass … ich weiß nicht, was ich meine.«
»Penny«, sagt Björn ernst. »Alles, was passiert ist, ist meine Schuld.«
Er sieht sie an. Seine Augen sind rot unterlaufen, seine Wangen zeichnen sich rot auf dem bleichen Gesicht ab.
»Was sagst du da? Was sagst du denn da?«, fragt sie leise.
Er schluckt.
»Ich habe eine schreckliche Dummheit begangen, Penny.«
»Was hast du getan?«
»Dieses Foto«, antwortet er. »Es geht die ganze Zeit um das Foto.«
»Welches Foto? Das von Palmcrona und Raphael Guidi?«
»Ja, ich habe mich bei Palmcrona gemeldet«, antwortet Björn. »Ich habe ihm von dem Bild erzählt und ihm gesagt, dass ich Geld haben will, aber …«
»Nein«, flüstert sie abrupt.
Penelope starrt ihn an, rückt von ihm ab und kippt versehentlich das Nachttischchen mit dem Wasserglas und dem Radiowecker um.
»Penny …«
»Nein, still«, unterbricht sie ihn mit lauter Stimme. »Ich kapiere gar nichts. Was sagst du da? Was zum Teufel sagst du denn da? Du kannst doch nicht … du kannst doch nicht … Sag mal, spinnst du, hast du Palmcrona erpresst? Hast du ausgenutzt, dass …«
»Aber jetzt hör mir doch mal zu! Es war falsch, ich weiß, er hat das Bild, ich habe ihm das Foto zugeschickt.«
Es wird still. Penelope versucht zu verstehen, was er gesagt hat. Wirre Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Sie kämpft darum zu verstehen, was Björn ihr gerade gestanden hat.
»Das ist mein Foto«, sagt sie langsam und versucht, klar zu denken. »Es könnte wichtig sein. Es ist möglicherweise ein wichtiges Bild. Ich habe es vertraulich bekommen, es könnte jemanden geben, der etwas weiß, das …«
»Ich wollte doch nur nicht das Boot verkaufen müssen«, flüstert er und scheint den Tränen nahe zu sein.
»Aber irgendwie kapiere ich das nicht … Du hast das Foto Palmcrona geschickt?«
»Weil ich musste, Penny, weil mir klar wurde, dass ich einen Fehler gemacht hatte … ich musste ihm das Bild geben.«