Der Rest des Tages verging mit Notoperationen. Einer der Männer starb. Einmal wurde Penelope von Grey aufgehalten, der ihr eine Wasserflasche hinhielt. Penelope schüttelte gestresst den Kopf, aber er lächelte nur ruhig und sagte:
»Du hast genügend Zeit, um etwas zu trinken.«
Sie bedankte sich, trank das Wasser und half ihm anschließend, einen der verletzten Männer auf eine Liege zu heben.
Am Abend saßen Penelope und Jane erschöpft auf der Veranda einer Wohnbaracke und nahmen eine späte Mahlzeit zu sich. Es war immer noch sehr heiß. Sie plauderten und blickten die Straße hinunter, zu den Häusern und Zelten hinüber, beobachteten die Menschen, die in der Dämmerung die letzten Arbeiten des Abends erledigten.
Genauso schnell, wie es dunkel wurde, griff eine unheilverkündende Stille um sich. Anfangs hörte Penelope noch Menschen, die sich zurückzogen, das Rascheln aus den Latrinen und vereinzelte schleichende Bewegungen in der Dunkelheit. Doch schon bald war es vollkommen still, und nicht einmal die kleinsten Kinder weinten.
»Sie fürchten sich alle immer noch davor, dass die Truppen der Dschandschawid vorbeiziehen«, sagte Jane und sammelte die Teller ein.
Sie gingen hinein, schlossen die Tür ab, verriegelten sie und spülten anschließend gemeinsam. Sie wünschten sich eine gute Nacht, und Penelope ging zum Gästezimmer am hinteren Ende des Flurs.
Zwei Stunden später wurde Penelope schlagartig wach. Sie war in ihren Kleidern eingeschlafen und horchte nun in die mächtige Nacht Darfurs hinein. Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte. Ihr Herz beruhigte sich gerade wieder, als sie draußen plötzlich einen Schrei hörte. Penelope stand auf, ging zu ihrem kleinen vergitterten Fenster und sah hinaus. Mondlicht erhellte die Straße. Irgendwo wurde ein erregtes Gespräch geführt. Mitten auf der Straße gingen drei männliche Jugendliche. Sie gehörten unübersehbar zur Miliz der Dschandschawid. Einer von ihnen hielt einen Revolver in der Hand. Penelope hörte sie schreien, dass sie Sklaven töten würden. Ein alter Afrikaner, der Süßkartoffeln über einem Glutbett grillte und für zwei Piaster pro Stück verkaufte, saß bereits auf seiner Decke vor einer UN-Lagerhalle. Die Jungen gingen zu dem alten Mann und bespuckten ihn. Der schlaksige Junge hob den Revolver und schoss dem Mann ins Gesicht. Der Knall hallte fremdartig zwischen den Häusern. Die Jungen schrien, nahmen sich einige Süßkartoffeln, aßen ein wenig und traten den Rest in den Straßenstaub neben dem toten Mann.
Sie kehrten auf die Straße zurück, schauten sich um und bewegten sich anschließend direkt auf die Baracke zu, in der Penelope und Jane wohnten. Penelope weiß noch, dass sie die Luft anhielt, als sie die Milizionäre auf der Veranda umherlaufen, erregt miteinander sprechen und an die Tür klopfen hörte.
Sie ringt nach Luft und öffnet die Augen. Sie muss auf Ossian Wallenbergs Couch eingeschlafen sein.
Dumpf und krachend verhallt ein Donner. Der Himmel hat sich verdunkelt.
Björn steht am Fenster, und Ossian nippt an seinem Whisky.
Penelope wirft einen Blick auf das Telefon – es hat niemand angerufen.
Die Wasserschutzpolizei müsste eigentlich bald da sein.
Das Gewitter kommt rasch näher. Die Deckenlampe geht aus, die Dunstabzugshaube in der Küche verstummt, der Strom ist ausgefallen. Tropfen klatschen auf das Dach und die Fensterbleche, und von einer Sekunde zur nächsten gießt es in Strömen.
Das Handy hat kein Netz mehr.
Ein Blitz taucht das Zimmer in Licht, gefolgt von einem heftigen Knall.
Penelope lehnt sich zurück und lauscht dem Regen, spürt die kühlere Luft durchs Fenster dringen, schlummert erneut ein, wird schließlich jedoch davon geweckt, dass Björn etwas sagt.
»Bitte?«, fragt sie.
»Ein Boot«, wiederholt er. »Ein Polizeiboot.«
Sie steht schnell auf und blickt hinaus. Durch den Wolkenbruch kocht das Wasser förmlich. Das große Boot ist schon ganz nah und nimmt Kurs auf den Steg. Penelope sieht auf das Telefon. Es hat immer noch keinen Empfang.
»Beeil dich«, sagt Björn.
Er versucht, den Schlüssel in das Schloss der Terrassentür zu stecken. Seine Hände zittern. Das Polizeiboot gleitet zum Steg, gibt mit der Sirene Signal.
»Er passt nicht«, sagt Björn mit lauter Stimme. »Das ist der falsche Schlüssel.«
»Oh, oh, oje«, sagt Ossian lächelnd und zieht seinen Schlüsselbund heraus. »Dann muss es der hier sein.«
Björn holt den Schlüssel, steckt ihn ins Schloss, dreht und hört das metallische Klicken in den drehbaren Teilen der Verriegelung.
Durch den Regen ist das Polizeiboot nur schwer zu sehen, und als Björn endlich die Tür aufbekommt, treibt es bereits wieder vom Anleger fort.
»Björn«, ruft Penelope.
Der Motor dröhnt, und hinter dem Boot schäumt es weiß, Björn winkt und läuft, so schnell er kann, auf dem Kiesweg die Uferböschung hinunter.
»Hier oben«, ruft er. »Wir sind hier.«
Björns Schultern und Oberschenkel sind durchnässt. Er gelangt zum Steg und sieht die Bootsmotoren mit pulsierendem Unterwassergrollen bremsen. Auf dem Achterdeck steht ein Erste-Hilfe-Koffer. Hinter der Fensterscheibe erahnt er schemenhaft einen Polizisten. Ein weiterer Blitz erleuchtet den Himmel. Es donnert ohrenbetäubend. Der Polizist hinter der Scheibe scheint in ein Funkgerät zu sprechen. Regen prasselt auf das Dach des Boots herab. Wellen schlagen ans Ufer. Björn ruft und winkt mit dem ganzen Arm. Das Boot kehrt sanft zurück, seine Backbordseite stößt gegen den Steg.
Björn greift nach der nassen Reling, geht auf dem Vordeck an Bord und steigt in den Gang hinab, der zu einer Metalltür führt. Das Boot schaukelt in seinen eigenen Heckwellen. Er taumelt, öffnet die schwere Metalltür und tritt ein.
Ein süßer, metallischer Geruch wie von Öl und Schweiß hängt im Ruderhaus.
Als Erstes fällt Björns Blick auf einen sonnengebräunten Polizisten, der mit einer Quetschwunde an der Stirn auf dem Boden liegt. Seine Augen sind weit geöffnet. Unter ihm breitet sich eine fast schwarze Blutlache aus. Björn atmet schnell, schaut sich in dem dunklen Raum zwischen Polizeiausrüstung, Regenmänteln und Surfermagazinen um. Durch das Dröhnen der Motoren hindurch hört er eine Stimme. Es ist Ossian Wallenberg, der vom Kiesweg aus etwas ruft. Er nähert sich mit einem gelben Regenschirm über dem Kopf humpelnd dem Steg. Björn spürt den Puls in seinen Schläfen pochen und erkennt, dass er in eine Falle getappt ist. Er sieht Blutspritzer auf der Innenseite der Windschutzscheibe und tastet nach der Klinke. Die Treppe zur Kajüte knarrt, und er dreht sich um und sieht seinen Verfolger aus der Dunkelheit heraufkommen. Er trägt eine Polizeiuniform, und sein Gesicht ist hellwach, fast neugierig. Björn erkennt, dass es für eine Flucht zu spät ist, und greift nach einem Schraubenzieher in dem Regal über dem Armaturenbrett, um sich zu verteidigen. Der Verfolger hält sich am Treppengeländer fest, steigt ins Ruderhaus hinauf, blinzelt im grellen Licht und richtet den Blick auf Windschutzscheibe und Ufer. Regen schlägt gegen das Fenster. Björn bewegt sich schnell. Er zielt mit dem Schraubenzieher auf das Herz des Gegners, stößt zu und begreift nicht wirklich, was dann geschieht. Er spürt bloß ein Zittern in seiner Schulter. Der Gegenschlag des Angreifers bewirkt, dass Björn jegliches Gefühl im Arm verliert. Es ist, als gäbe es seinen Arm überhaupt nicht mehr. Der Schraubenzieher fällt zu Boden und rutscht klappernd hinter eine Werkzeugkiste aus Aluminium. Der Verfolger hält seinen leblosen Arm fest, reißt ihn nach vorn, verdreht Björns Körper, fegt mit einem Tritt seine Beine weg und lenkt und verstärkt die Kraft in Björns Fall so, dass dieser mit dem Gesicht nach unten stürzt und auf die Fußstütze neben dem Steuer schlägt. Durch den Aufprall bricht mit einem dumpfen Knirschen Björns Genick. Er spürt nichts, sieht jedoch einige seltsame Funken, kleine Flammen, die in der Dunkelheit umherhüpfen, immer langsamer und wohliger. Björns Gesicht zuckt schwach, wenige Sekunden später ist er tot.