»Ich verstehe.«
Ehe sie das Gespräch beenden, hält Simon Lawrence ihr eine kurze Vorlesung über die Lage im Sudan.
»Und, worum ging es?«, erkundigt sich Joona.
»Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat einen Haftbefehl gegen Präsident al-Bashir erlassen«, sagt sie und wirft Joona einen langen Blick zu.
»Das wusste ich nicht«, gesteht er.
»Die Vereinten Nationen haben 2004 gegen die Dschandschawid und andere bewaffnete Gruppen in Darfur ein Waffenembargo beschlossen.«
Sie fahren auf dem Nynäsvägen in nördliche Richtung. Der Sommerhimmel bewölkt sich, und die Wolken hängen tief.
»Sprich weiter«, sagt Joona.
»Präsident al-Bashir hat stets jede Verbindung zur Miliz geleugnet«, erzählt sie. »Nach dem Embargo der Vereinten Nationen waren Exporte nur noch direkt an die sudanesische Regierung erlaubt.«
»Weil sie nicht mit der Miliz in Darfur in Verbindung stand.«
»Genau«, bestätigt Saga. »2005 wurde dann ein umfassender Friedensvertrag geschlossen, das Comprehensive Peace Agreement, mit dem der längste Bürgerkrieg Afrikas beendet wurde. Danach gab es keine prinzipiellen Gründe mehr, die gegen schwedische Waffenlieferungen an die sudanesische Armee gesprochen hätten. Carl Palmcronas Rolle bestand deshalb darin zu beurteilen, ob die Frage sicherheitspolitisch relevant war.«
»Aber der Internationale Strafgerichtshof kam offenkundig zu einer anderen Einschätzung«, bemerkt Joona.
»Ja, allerdings … dort sah man eine direkte Verbindung zwischen dem Präsidenten und der bewaffneten Miliz als erwiesen an und erließ einen Haftbefehl wegen Vergewaltigungen, Folter und Völkermord gegen ihn.«
»Was ist danach passiert?«
»Im April wurde gewählt, al-Bashir wurde in seinem Amt bestätigt, und der Sudan hat natürlich nicht die Absicht, sich nach dem Haftbefehl zu richten, aber nach Lage der Dinge ist es natürlich völlig ausgeschlossen, Waffen in den Sudan zu exportieren und Geschäfte mit Umar al-Bashir und Agathe al-Haji zu machen.«
»Genau wie Pontus Salman gesagt hat«, wirft Joona ein.
»Ja, deshalb haben sie das Geschäft abgebrochen.«
»Wir müssen Penelope Fernandez finden«, sagt Joona, während die ersten Regentropfen auf die Windschutzscheibe des Autos treffen.
Sie fahren in ein Unwetter hinein, die Sicht wird sehr schlecht. Es gießt in Strömen, und der Regen trommelt laut auf das Autodach. Joona kann auf der Autobahn nicht schneller als fünfzig Stundenkilometer fahren. Es ist stockfinster, nur gelegentlich wird der Himmel vom Licht ferner Blitze erleuchtet. Die Scheibenwischer sausen hin und her.
Plötzlich klingelt Joonas Handy. Es ist Petter Näslund, sein direkter Vorgesetzter, der gestresst erklärt, Penelope Fernandez habe zwanzig Minuten zuvor in der Notrufzentrale angerufen.
»Warum habe ich davon nichts erfahren?«
»Ich fand, dass es Vorrang hatte, die Wasserschutzpolizei dorthin zu beordern, sie sind schon unterwegs. Ich habe aber zusätzlich noch einen Hubschrauber vom Seenotrettungsdienst angefordert, um sie möglichst schnell zu holen.«
»Gut, Petter«, sagt Joona und sieht, dass Saga ihm einen fragenden Blick zuwirft.
»Ich weiß, dass du Penelope Fernandez und Björn Almskog möglichst schnell vernehmen willst.«
»Ja«, erwidert Joona.
»Ich rufe dich wieder an, sobald ich weiß, in welchem Zustand sie sind.«
»Danke.«
»Die Kollegen von der Wasserschutzpolizei müssten Kymmendö eigentlich jeden Moment erreichen und … Moment mal, da ist was passiert, kannst du bitte kurz warten?«
Joona hört, wie Petter mit jemandem spricht, immer erregter klingt und schließlich schreit: »Dann versuch es eben immer wieder.«
»Ich muss Schluss machen«, erklärt Petter Joona kurzerhand.
»Was geht da vor?«, fragt Joona.
Ein Donner grollt und verebbt knisternd.
»Wir bekommen keinen Kontakt zu den Kollegen auf dem Boot, sie antworten nicht. Es ist dieser verdammte Lance, wahrscheinlich hat er irgendeine Welle gesehen, der er nicht widerstehen konnte.«
»Petter«, sagt Joona. »Hör mir bitte gut zu, du musst jetzt sehr schnell handeln. Ich glaube, dass das Boot gekapert wurde und …«
»Jetzt mach aber mal einen …«
»Halt’s Maul und hör zu.«
»Wahrscheinlich sind unsere Kollegen von der Wasserschutzpolizei schon tot. Du hast nur ein paar Minuten, um eine Einsatztruppe zusammenzustellen und deren Leitung zu übernehmen. Ruf auf dem einen Apparat die Landeskriminalpolizei an und auf dem anderen Bengt Olofsson, du musst versuchen, zwei Patrouillen von der Nationalen Antiterrortruppe zu bekommen, und bitte um Verstärkung durch einen Hubschrauber 14 vom nächstgelegenen Fliegerhorst.«
58
Der Begünstigte
Ein Unwetter zieht über Stockholm auf, Donner rollen, Blitze erhellen den Himmel, und es gießt in Strömen. Regentropfen klatschen gegen die Fenster von Carl Palmcronas großer Wohnung. Tommy Kofoed und Nathan Pollock haben die vorübergehend unterbrochene kriminaltechnische Untersuchung wieder aufgenommen.
Es ist so dunkel, dass sie die Deckenlampen einschalten müssen.
In einem der deckenhohen Kleiderschränke in Palmcronas Ankleidezimmer findet Pollock unter einer ganzen Reihe grauer, blauer und schwarzer Anzüge eine glänzende Ledermappe.
»Tommy«, ruft er.
Gebeugt und mürrisch kommt Kofoed zu ihm herein.
»Was ist?«
Nathan Pollock tippt mit seinen behandschuhten Fingern auf die Ledermappe.
»Ich glaube, ich habe hier was gefunden«, sagt er.
Sie gehen zu der hohen, tiefen Fensternische, wo Pollock vorsichtig den Verschluss löst und die Ledermappe öffnet.
»Mach weiter«, flüstert Kofoed.
Pollock hebt behutsam das dünne Vorsatzblatt ab, auf dem einige Worte stehen: Carl Palmcronas letzter Wille.
Sie lesen schweigend. Das Dokument ist auf den ersten März des Vorjahrs datiert. Palmcrona hat sein gesamtes Vermögen einem einzigen Menschen vermacht: Stefan Bergkvist.
»Wer zum Henker ist Stefan Bergkvist?«, fragt Kofoed, als sie den Text gelesen haben. »Soweit ich weiß, hatte Palmcrona keine Verwandte, keine Freunde, er hatte niemanden.«
»Stefan Bergkvist wohnt in Västerås … jedenfalls zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Dokuments«, sagt Pollock. »In der Rekylgatan 11 in Västerås und …«
Pollock unterbricht sich und blickt auf:
»Er ist noch ein Kind. Laut Personennummer ist er gerade mal sechzehn Jahre alt.«
Aufgesetzt hat das Testament Palmcronas Anwalt von der Kanzlei Wieselgreen und Söhne. Pollock blättert im aktualisierten Anhang des Testaments, in dem Palmcronas Vermögenswerte präzisiert werden. Es handelt sich um vier Rentenfonds, verpachteten Wald, nur zwei Hektar, einen Hof in Södermanland, der seit zehn Jahren vermietet wird, und die mit hohen Hypotheken belastete Eigentumswohnung in der Grevgatan 2. Der einzige wirklich große Vermögenswert scheint ein Konto bei der Standard Chartered Bank in Jersey zu sein, auf dem nach Palmcronas Angaben neun Millionen Euro liegen.
»Es sieht ganz danach aus, dass dieser Stefan reich geworden ist«, sagt Pollock.
»Ja.«
»Aber warum?«
Tommy zuckt mit den Schultern:
»Manche Leute vermachen alles ihrem Hund oder dem Fitnesstrainer.«
»Ich rufe ihn an.«
»Den Jungen?«
»Was sollen wir denn sonst tun?«
Nathan Pollock wählt eine Nummer auf seinem Handy, bittet darum, mit Stefan Bergkvist in der Rekylgatan 11 in Västerås verbunden zu werden, erfährt, dass unter dieser Adresse nur eine Siv Bergkvist verzeichnet ist, und denkt sich, dass sie vermutlich die Mutter des Jungen ist. Nathan blickt auf den heftigen Regen und die überlaufenden Dachrinnen hinaus.
»Siv Bergkvist«, meldet sich eine Frau mit gebrochener Stimme.
»Mein Name ist Nathan Pollock, ich bin Kriminalkommissar … sind Sie die Mutter von Stefan Bergkvist?«
»Ja«, flüstert sie.
»Könnte ich ihn bitte kurz sprechen?«