Er steht auf und erblickt Beverlys Spiegelbild im Fenster, sieht ihre Kinnlinie und erkennt, dass sie Greta ähnelt.
Axel möchte sich einfach nur abwenden und hinauslaufen, das Haus verlassen, zwingt sich jedoch, einen Lappen zu holen, und das Herz findet zu seinem ruhigen Rhythmus zurück.
Es ist keine frappierende Ähnlichkeit, aber Beverly erinnert in vielem an Greta.
Er bleibt stehen und fährt sich mit zitternder Hand über den Mund.
Er denkt täglich an Greta, versucht zu vermeiden, täglich an sie zu denken.
Die Woche bis zum Finale des Wettbewerbs verfolgt ihn.
Sie liegt vierunddreißig Jahre zurück, aber in seinem Leben verfinsterte sich damals alles, er war noch so jung, erst siebzehn, aber vieles war bereits vorbei.
62
Der süße Schlaf
Der Johan-Fredrik-Berwald-Wettbewerb war zweifellos Nordeuropas prestigeträchtigster Wettbewerb für junge Geiger. Diverse weltweit bekannte Virtuosen wurden dort entdeckt und auf einen Schlag ins große, blendende Scheinwerferlicht gerückt. Für das Finale hatten sich drei Solisten qualifiziert, in sechs Durchgängen hatten immer weniger Teilnehmer vor einer Jury gespielt. Das Finale sollte anlässlich eines live im Fernsehen übertragenen Konzerts unter der Leitung von Herbert Blomstedt vor großem Publikum stattfinden.
In Musikerkreisen galt es als Sensation, dass zwei der Finalisten, Axel Riessen und Greta Stiernlood, am Königlichen Konservatorium in Stockholm studierten. Der dritte Finalist war Shiro Sasaki aus Japan.
Für Alice Riessen, die selbst eine Berufsmusikerin gewesen war, die den großen Durchbruch nicht geschafft hatte, waren die Erfolge ihres Sohnes Axel ein großer Triumph. Insbesondere nachdem sie eine Reihe von Verwarnungen vom Rektor der Hochschule erhalten hatte, weil Axel Vorlesungen fernblieb und bisweilen den ganzen Tag über unkonzentriert und nachlässig war.
Nachdem sie die dritte Runde erreicht hatten, wurden Axel und Greta vom Unterricht befreit, um all ihre Zeit den Proben für den nächsten Durchgang widmen zu können. Im Laufe des Wettbewerbs hatten sie einander näher kennengelernt, freuten sich über die Erfolge des anderen. Vor dem Finale begannen sie, sich bei Axel zu treffen, um sich gegenseitig zu unterstützen.
Der letzte Wettbewerbsbeitrag war ein Stück, das der Geiger selbst oder in Absprache mit seinem Lehrer auswählte.
Axel und seinem jüngeren Bruder Robert standen die sieben Zimmer in der obersten Etage des großen Hauses im Stadtteil Lärkstaden zur Verfügung. Axel übte im Prinzip nie auf seinem Instrument, liebte es aber zu spielen, sich neue Stücke zu erarbeiten, Klänge auszuloten, die er noch nie gehört hatte. Manchmal blieb er bis tief in die Nacht auf, spielte auf seiner Geige und erforschte ihr Wesen, bis seine Fingerkuppen am Ende brannten.
Es blieb ihnen nur noch ein Tag. Am nächsten Abend würden Axel und Greta im Konzerthaus in der Finalrunde spielen. Axel betrachtete die LP-Cover, die auf dem Fußboden vor seinem Plattenspieler verstreut lagen. Es waren drei Alben von David Bowie, »Space Oddity«, »Alladin Sane« und »Hunky Dory«.
Seine Mutter klopfte an die Tür und trat mit einer Flasche Coca-Cola und zwei Gläsern mit Eiswürfeln und Zitronenscheiben ein. Axel bedankte sich leicht erstaunt, nahm ihr das Tablett ab und stellte es auf den Couchtisch.
»Ich dachte, ihr würdet üben«, sagte Alice und schaute sich um.
»Greta musste zum Essen nach Hause.«
»Aber du kannst doch in der Zwischenzeit weitermachen.«
»Ich warte auf sie.«
»Du weißt, dass morgen das Finale ist«, sagte Alice und setzte sich neben ihren Sohn. »Ich übe mindestens acht Stunden am Tag, manchmal habe ich zehn Stunden täglich gearbeitet.«
»Ich bin nicht einmal zehn Stunden am Tag wach«, scherzte Axel.
»Axel, du hast Talent.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es einfach. Aber das reicht nicht, das reicht bei niemandem«, erklärte sie.
»Mama, ich übe wie verrückt«, log er.
»Spiel mir vor«, bat sie ihn.
»Nein«, entgegnete er schroff.
»Ich verstehe ja, dass du deine Mutter nicht als Lehrerin haben willst, aber jetzt, wo es darauf ankommt, könntest du es ruhig zulassen, dass ich dir helfe«, fuhr Alice geduldig fort. »Als ich dich das letzte Mal gehört habe, was immerhin schon zwei Jahre her ist, auf einem Weihnachtskonzert, hat keiner begriffen, was du da gespielt hast …«
»Bowies ›Cracked Actor‹.«
»Das war unreif … aber für einen Fünfzehnjährigen ziemlich beeindruckend«, gestand sie und streckte die Hand aus, um ihn zu streicheln. »Aber morgen, da …«
Axel entzog sich der Hand seiner Mutter:
»Kritisier mich nicht immer.«
»Darf ich erfahren, für welches Stück du dich entschieden hast?«
»Für etwas Klassisches«, antwortete er mit einem breiten Grinsen.
»Gott sei Dank.«
Er zuckte mit den Schultern und wich ihrem Blick aus. Als es an der Tür klingelte, verließ er den Raum und eilte die Treppen hinunter.
Es dämmerte bereits, aber der Schnee hatte im Freien ein indirektes Licht geschaffen, eine Dunkelheit, die sich nicht weiter verdichtete. Greta stand mit einer Baskenmütze auf dem Kopf und in einem Dufflecoat auf der Eingangstreppe. Der gestreifte Schal war um ihren Hals geschlungen. Ihre Wangen leuchteten rot von der Kälte, und die Haare, die auf ihre Schultern fielen, hingen voller Schneeflocken. Sie legte den Geigenkasten auf die Kommode im Flur, hängte ihren Mantel sorgsam auf, schnürte die schwarzen Stiefel auf und holte ihre flachen Hausschuhe aus der Umhängetasche.
Alice Riessen kam herunter und begrüßte Greta. Sie war aufgekratzt, und ihre Wangen hatten sich vor Freude gerötet:
»Es ist gut, dass ihr euch gegenseitig beim Üben helft«, sagte sie. »Du musst streng sein mit Axel, sonst faulenzt er nur.«
»Das habe ich gemerkt«, erwiderte Greta lachend.
Greta Stiernlood war die Tochter eines Industriellen, der Großaktionär bei Saab Scania, der Enskilda Banken und anderen Unternehmen war. Greta war alleine bei ihrem Vater aufgewachsen – ihre Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie noch sehr klein war, und sie hatte ihre Mutter seither nie wieder gesehen. Sehr früh – vielleicht schon vor ihrer Geburt – hatte ihr Vater beschlossen, dass sie Geigerin werden sollte.
Als sie Axels Musikzimmer betraten, ging Greta zum Flügel. Die glänzenden lockigen Haare fielen offen auf ihre Schultern herab. Sie trug eine weiße Bluse und einen Rock im Schottenmuster, einen dunkelblauen Pullunder und eine gestreifte Strumpfhose.
Sie packte ihre Geige aus, befestigte die Kinnstütze, strich mit einem Baumwolllappen das Harz fort, das auf den Saiten haftete, spannte den Bogen und platzierte die Noten auf dem Ständer. Rasch überprüfte sie, dass die Geige sich durch die Kälte und die Feuchtigkeitsunterschiede nicht verstimmt hatte.
Dann begann sie zu üben. Sie spielte wie immer mit halb geschlossenen Augen und in sich gekehrtem Blick. Ihre langen Wimpern warfen zitternde Schatten auf ihr errötendes Gesicht. Das Stück war Axel vertraut: die erste Stimme aus Beethovens fünfzehntem Streichquartett. Ein ernstes und suchendes Thema.
Er lauschte, lächelte und dachte, dass Greta ein Gespür für Musik hatte, eine Ehrlichkeit in ihren Interpretationen, die seinen Respekt weckte.
»Schön«, sagte er, als sie aufhörte.
Sie tauschte die Noten aus und pustete auf ihre wunden Finger.
»Aber ich kann mich nicht entscheiden … weißt du, Vater wollte von mir wissen, was ich spielen will, er sagt, dass ich Tartini spielen soll, die Violinsonate in G-Moll.«
Sie verstummte, sah auf die Noten, folgte ihnen mit den Augen, zählte Sechzehntel und verinnerlichte komplizierte Legato-Stellen.
»Aber ich bin mir nicht sicher, ich …«
»Darf ich es hören?«, fragte Axel.
»Es klingt furchtbar«, erwiderte sie und errötete.
Sie spielte mit angespanntem Gesicht den letzten Satz. Das Stück war schön und traurig, aber gegen Ende, wo die höchsten Töne der Geige emporschießen müssen wie ein loderndes Feuer, wurde sie langsamer.