»Mist«, flüsterte sie und nahm die Geige in Ruheposition unter ihren Arm. »Ich bin nicht mehr mitgekommen, ich habe wirklich gerackert wie eine Blöde, aber ich muss noch mehr Wert auf die Sechzehntel und die Triolen legen, die …«
»Also mir hat dieses Schwanken gefallen, als würdest du einen großen Spiegel biegen, sodass …«
»Ich habe falsch gespielt«, unterbrach sie ihn und errötete noch heftiger. »Entschuldige, ich weiß, du versuchst nur, nett zu sein, aber so geht das nicht, ich muss richtig spielen. Es ist doch verrückt, dass ich hier am Vorabend sitze und mich nicht entscheiden kann, ob ich das leichte nehmen oder auf das schwere Stück setzen soll.«
»Du kannst doch beide, also …«
»Nein, kann ich nicht, es wäre ein Wagnis«, entgegnete sie. »Aber gib mir ein paar Stunden, drei Stunden, dann traue ich mich vielleicht, morgen auf Tartini zu setzen.«
»Du kannst das doch nicht nur tun, weil dein Vater findet, dass …«
»Aber er hat ja recht.«
»Nein«, widersprach Axel und rollte langsam einen Joint.
»Ich kann das Leichtere«, fuhr sie fort, »aber das reicht möglicherweise nicht, es kommt ganz darauf an, für was ihr zwei, du und der japanische Junge, euch entscheidet.«
»So kann man nicht denken.«
»Wie soll man denn dann denken? Ich habe dich nicht ein einziges Mal üben sehen. Was wirst du spielen – hast du dich überhaupt schon entschieden?«
»Ravel«, antwortete er.
»Ravel? Ohne zu üben?«
Sie lachte.
»Im Ernst?«, fragte sie.
»Ravels ›Tzigane‹ – und nichts anderes.«
»Axel, entschuldige, aber das ist eine völlig irrsinnige Wahl, das weißt du, das Stück ist zu kompliziert, zu schnell, zu übermütig und …«
»Ich will es wie Perlman spielen, aber ohne Hast … denn eigentlich ist es gar nicht schnell.«
»Axel, es ist schrecklich schnell«, sagte sie und lächelte.
»Ja, für den Hasen, der gejagt wird … aber dem Wolf geht es zu langsam.«
Sie warf ihm einen müden Blick zu.
»Wo hast du denn das gelesen?«
»Das soll Paganini gesagt haben.«
»So so, dann muss ich mir also nur noch Sorgen wegen meines japanischen Kontrahenten machen«, erklärte sie und legte die Geige an die Schulter. »Du übst nicht, Axel, du kannst Ravels ›Tzigane‹ nicht spielen.«
»Es ist gar nicht so schwer, wie alle sagen«, sagte er und zündete seinen Joint an.
»Nein«, sagte sie lächelnd und begann wieder zu spielen.
Dann unterbrach sie ihr Spiel und sah ihn mit ernster Miene an.
»Du willst Ravel spielen?«
»Ja.«
Sie wurde ernst.
»Hast du mich angelogen? Übst du das Stück seit vier Jahren, oder was ist hier los?«
»Ich habe mich eben erst entschieden – als du gefragt hast.«
»Wie kannst du nur so dumm sein?«, sagte sie.
»Es ist mir egal, ob ich den letzten Platz belege«, sagte er und legte sich auf die Couch.
»Mir ist es nicht egal«, erwiderte sie.
»Ich weiß, aber es wird noch mehr Chancen geben.«
»Nicht für mich.«
Sie begann erneut, das schwere Stück von Tartini zu spielen, das jetzt besser lief, dennoch stoppte sie vorzeitig, spielte noch einmal die komplizierte Partie und danach noch einmal.
Axel klatschte in die Hände, legte David Bowies »The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars« auf und führte den Tonarm über die LP. Er legte sich hin, schloss die Augen und sang den Song mit.
»Ziggy really sang, screwed up eyes and screwed down hairdo. Like som cat from Japan, he could lick’em by smiling. He could leave’em to hang.«
Greta zögerte, legte die Geige ab, ging zu ihm und nahm ihm den Joint aus der Hand. Sie rauchte ein paar Züge, hustete und gab ihn zurück.
»Wie kann man nur so dumm sein wie du?«, fragte sie und strich ihm plötzlich über die Lippen.
Sie beugte sich vor und versuchte, ihn auf den Mund zu küssen, der Kuss landete daneben, sie küsste ihn auf die Wange, flüsterte Entschuldigung und küsste ihn noch einmal. Sie küssten sich weiter, vorsichtig, tastend. Er zog ihr den Pullunder aus, und ihre Haare knisterten vor statischer Elektrizität. Er bekam einen Schlag, als er ihre Wange berührte, und zog hastig die Hand zurück. Sie lächelten sich nervös an und küssten sich wieder. Er knöpfte ihre weiße gebügelte Bluse auf und spürte die kleinen Brüste durch ihren schlichten BH. Sie half ihm, das T-Shirt auszuziehen. Ihre langen, gelockten Haare rochen nach Schnee und Winter, aber ihr Körper war so warm wie frisch gebackenes Brot.
Sie gingen ins Schlafzimmer und sanken auf sein Bett. Mit zitternden Händen knöpfte sie den gefütterten Wickelrock auf und hielt anschließend ihren Slip fest, damit er nicht mitrutschte, als er ihre dicke gestreifte Strumpfhose herunterzog.
»Was ist?«, flüsterte er. »Willst du aufhören?«
»Ich weiß nicht – willst du aufhören?«
»Nein«, antwortete er lächelnd.
»Ich bin nur ein bisschen nervös«, sagte sie aufrichtig.
»Aber du bist doch älter als ich.«
»Stimmt, du bist erst siebzehn − das ist ja fast ein bisschen unanständig.«
Axels Herz schlug bis zum Hals, als er ihren Slip herabzog. Sie lag vollkommen still, als er ihren Bauch, die kleinen Brüste, den Hals, das Kinn, die Lippen küsste. Sie spreizte vorsichtig die Beine, und er legte sich auf sie, spürte, wie sie langsam ihre Schenkel gegen seine Hüften presste. Als er in sie hineinglitt, liefen ihre Wangen feuerrot an. Sie zog ihn an sich, streichelte seinen Nacken und Rücken und seufzte jedes Mal leise, wenn er in sie hineinsank.
Als sie schließlich keuchend zur Ruhe kamen, hatte sich zwischen ihren nackten Körpern eine dünne Schicht aus warmem Schweiß gebildet. Eng umschlungen lagen sie mit geschlossenen Augen in seinem Bett und schliefen schon bald ein.
63
Der Johan-Fredrik-Berwald-Wettbewerb
Als Axel an jenem Tag erwachte, an dem er alles verlieren sollte, war es hell. Er und Greta hatten die Vorhänge nicht zugezogen, sie waren einfach zusammen im Bett eingeschlafen und hatten die ganze Nacht erschöpft und glücklich in den Armen des anderen geschlafen.
Axel verließ das Bett, betrachtete Greta, die mit vollkommen ruhigem Gesicht und in die dicke Decke gewickelt schlief. Er ging zur Tür, blieb vor dem Spiegel stehen und musterte kurz seinen nackten siebzehnjährigen Körper, ehe er ins Musikzimmer ging. Vorsichtig schloss er die Tür zum Schlafzimmer, ging zum Flügel und nahm seine Geige aus dem Kasten. Er legte sie an die Schulter, stellte sich ans Fenster und blickte in den Wintermorgen hinaus, auf den Schnee, der in langen Schleiern von den Dächern herabwehte, und begann, aus dem Gedächtnis Maurice Ravels »Tzigane« zu spielen.
Das Stück fing mit einer traurigen Zigeunerweise an, langsam und bedeutungsschwer, aber dann steigerte sich das Tempo. Die Melodie löste immer schnellere Echos ihrer selbst aus, die wie funkelnde, sekundenschnelle Erinnerungen an eine Sommernacht waren.
Er spielte ungeheuer schnell.
Er spielte, weil er glücklich war, überlegte nicht, ließ die Finger einfach mit dem sprühenden, perlenden Bach fließen, tanzen.
Axel lächelte in sich hinein, als er an das Gemälde dachte, das im Salon seines Großvaters hing, der immer behauptete, es sei Ernst Josephsons leidenschaftlichste Version des Wassergeists Näck. Als Kind hatte Axel die Sagen über dieses Zauberwesen geliebt, das mit seinem schönen Geigenspiel Menschen anlockte und ertrinken ließ.
Axel dachte, dass er in diesem Moment dem Näck ähnelte, dem nackten Jüngling, der im Wasser sitzend spielt. Der große Unterschied zwischen Axel und dem Näck auf Josephsons Bild bestand jedoch darin, dass Axel glücklich war.
Der Bogen lief über die Saiten, wechselte atemberaubend schnell die Position. Er scherte sich nicht darum, dass sich Rosshaar löste und vom Frosch herabhing.
So muss Ravel gespielt werden, dachte er. Er muss glücklich gespielt werden, nicht exotisch. Ravel ist ein glücklicher Komponist, ein junger Komponist.